Geschichte

75 Jahre Bundestag: Als Kanzler Schröder die Vertrauensfrage stellte

16. November 2021: Erstmals in der Geschichte des Bundestags verknüpft mit Gerhard Schröder ein Bundeskanzler die Vertrauensfrage mit einer Sachentscheidung. Erste Gratulantin nach der erfolgreichen Abstimmung ist die Frau, die dem Kanzler die Gefolgschaft versagte.

von Norbert Bicher · 18. Juli 2024
Freude trotz unterschiedlicher Ansichten: Christa Lörcher gratuliert Kanzler Gerhard Schröder zur gewonnenen Vertrauens frage am 16. November 2021.

Freude trotz unterschiedlicher Ansichten: Christa Lörcher gratuliert Kanzler Gerhard Schröder zur gewonnenen Vertrauens frage am 16. November 2021.

Die Szene ist bizarr. Kaum hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse unter dem Beifall der Koalitionsfraktionen SPD und Grünen das Ergebnis der namentlichen Abstimmung verlesen, eilt eine Frau, einen Schal in den Farben des Regenbogens um den Hals,  aus den hinteren Reihen des Plenums nach vorn auf Bundeskanzler Gerhard Schröder zu. Sie gibt ihm hastig die Hand und gratuliert. „Ich freue mich, dass Ihr weiter regieren könnt.“ Perplex umarmt Schröder die Abgeordnete für den Bruchteil einer Sekunde und wendet sich dann ab.

Verwundert verfolgt der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck aus der ersten Reihe des Plenums die Szene. Ausgerechnet Christa Lörcher, Abgeordnete aus Villingen-Schwenningen als erste Gratulantin. Und Schröder umarmt sie auch noch.

Eine Pazifistin versagt dem Kanzler die Gefolgschaft

Bis einen Tag vor dieser Debatte am 16. November 2001, in der der Kanzler wegen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr die Vertrauensfrage stellte, gehörte Lörcher der SPD-Fraktion an. Seit 1993 war die Sozialdemokratin über die baden-württembergische Landesliste im Bundestag. Eine Rebellin war sie nicht. Unauffällig und effektiv arbeitete sie im Ausschuss für Familie, Senioren und Jugend, war stellvertretendes Mitglied im außenpolitischen Ausschuss und gehörte dem Europarat an.

Keine Frau, die sich für den großen Auftritt inszenierte. Jetzt aber wagt sie ihn. Lörcher wollte als überzeugte Pazifistin die Entscheidung der Bundesregierung nicht mittragen, bis zu 3.900 Bundeswehrsoldat*innen zum Kampf gegen Al Quida und die Taliban in Afghanistan in der internationalen „Operation Enduring Freedom“ bereit zu halten und notfalls zu entsenden.

Nach dem Anschlag von 9/11 auf das World-Trade-Center in New York hatte Bundeskanzler Schröder den USA „uneingeschränkte Solidarität“ zugesagt, die Nato hatte erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall ausgerufen. Für die Bundesregierung war klar, dass sie sich einer Unterstützung in diesem Kampf nicht entziehen könne.

Die rot-grüne Koalition bangt um ihre Mehrheit

Der Widerstand in den Fraktionen von SPD und Grünen ist groß. 20 Abgeordnete der SPD signalisieren eine Woche vor der Abstimmung, eher nicht zuzustimmen, acht Abgeordnete der Grünen legen sich strikt auf ein Nein fest.

„Die Wasserstandsmeldungen wurden von Tag zu Tag beunruhigender“, schrieb Peter Struck in seinen Memoiren. „Eine eigene Mehrheit für den Kampf gegen den Terrorismus schien in immer größere Ferne zu rücken. Der Zustand wurde zunehmend dramatischer, weil sich viele der Zweifler in ihren Wahlkreisen bereits festgelegt und der Basis versprochen hatten, einem entsprechenden Bundeswehreinsatz nicht zuzustimmen.“

In dieser Situation entschließt sich Schröder, die Entscheidung mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wird die Vertrauensfrage an eine Sachfrage gekoppelt. Die Medien werten den Entschluss des Kanzlers auch als einen Hieb gegen den Fraktionschef, der die Aufständischen offensichtlich nicht zur Raison bringen kann.

Eine Abgeordnete vor einer Gewissensfrage

Für Struck beginnen zermürbende, nicht immer freundliche Einzelgespräche. Endlich, einen Tag vor der Abstimmung, kann er Schröder melden, er habe die Fraktion bis auf eine Stimme hinter dem Antrag versammelt.

Christa Lörcher aber will sich nicht beugen. Sie schreibt an die Fraktion. „Ich wünsche mir, dass Pazifismus in der SPD … immer noch einen Platz hat.“ Und weiter, sie wolle ihre Arbeit bis zum Ende der Legislaturperiode fortsetzen: „Wenn dies nicht innerhalb unserer SPD-Fraktion möglich ist, dann – das würde ich sehr bedauern – außerhalb unserer Fraktion.“

Die Version von Struck liest sich ein wenig anders: „Sie hatte ihrem Gewissen nicht nachgeben können, war aber aus der SPD-Fraktion ausgetreten, um als Abgeordnete nicht gegen den eigenen Kanzler stimmen zu müssen.“

Späte Ehrung für die Abtrünnige

Die Widerständler*innen in der Grünen-Fraktion einigen sich darauf, die Nein-Stimmen von ursprünglich acht auf vier zu reduzieren, um die Kanzlerschaft nicht zu gefährden. Damit reichen an jenem 16. November die 336 Stimmen der Koalition, zwei mehr als notwendig, um Kanzler Schröder und Rot-Grün zu retten.

Für immer bleibt dabei in Erinnerung: Christa Lörcher, die Frau mit dem Friedensschal, im Arm des Kanzlers, dem sie die Stimme versagte. Trotz ihres Austritts aus der Fraktion bleibt sie Sozialdemokratin und wird 2022 für ihr soziales und friedensbewegtes Engagement von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.

Die Serie
Im September 1949 trat der Bundestag erstmals zusammen. In einer neuen Serie beleuchten wir Reden aus acht Jahrzehnten. Alle Teile der Serie finden Sie hier.

Autor*in
Norbert Bicher

arbeitete in den 1980er und 1990er Jahren frei für den „Vorwärts". Danach war er Parlamentskorrespondent, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und des Verteidigungs­ministeriums.

Weitere interessante Rubriken entdecken

0 Kommentare
Noch keine Kommentare