Geschichte

17. Juni 1989: Als Erhard Eppler den Untergang der SED voraussagte

Erhard Eppler verblüfft am 17. Juni 1989 Freunde und Gegner. Im Bundestag bekennt sich der SPD-Politiker zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und zur Einheit der Nation. Und er sagt den Untergang der SED voraus, der wenige Monate später eintritt.
von Lars Haferkamp · 17. Juni 2020
Erhard Eppler am 17. Juni 1989 im Bundestag: das Ende der SED vorhergesagt
Erhard Eppler am 17. Juni 1989 im Bundestag: das Ende der SED vorhergesagt

In Bonn schlagen die Wogen der Empörung schon hoch, da hat Erhard Eppler seine Rede zum Tag der deutschen Einheit 1989 noch gar nicht gehalten. Empörung bei CDU und CSU, weil die SPD Eppler als Redner vorgeschlagen hat – und bei der SPD, weil die Union sich ­darüber empört. „Eppler passt nicht zum Charakter dieser Veranstaltung“, schimpft Eduard Lintner, deutschlandpolitischer Sprecher der Union. Die Konservativen wollen einen Redner, „der auf uns weniger polarisierend wirkt“, so Friedrich Bohl, Geschäftsführer der Unionsfraktion. Vergeblich. Erhard Eppler hält am 17. Juni 1989 seine Rede im Bundestag.

Das Unerwartete passiert: stehende Ovationen im ganzen Haus. Kanzler Helmut Kohl gratuliert Eppler zu seiner „bemerkenswerten Rede“. Sogar der erzkonservative Unionsfraktionschef Alfred Dregger beglückwünscht den linken Sozialdemokraten: „Sie sind ein Patriot und Demokrat.“

Mitreißende Rede statt leeres Ritual

Was war geschehen? Erhard Eppler hat es geschafft, eine mitreißende Rede an einem Tag zu halten, der für viele Westdeutsche zu einem sinnentleerten Ritual geworden ist. Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes erscheint Ende der 80er Jahre immer mehr Bundesbürgern als ein Anachronismus des Kalten Krieges, das zur Entspannungspolitik der Gorbatschow-Ära nicht mehr passt. Klaus Bölling nennt es 1985 gar eine „verdeckte Kriegserklärung an die DDR“. Es werden Forderungen laut, nicht mehr des DDR-Volksaufstands von 1953 am Nationalfeiertag zu gedenken. Stattdessen lieber der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 oder der Revolution von 1848.

Doch Erhard Eppler erkennt in seiner Rede, dass das Freiheitsstreben der DDR-Bürger von 1953 im Jahr 1989 „drängender, brisanter geworden ist“, als es das viele Jahre zuvor war. Und der „Vorwärts“ erkennt die Bedeutung von Epplers Worten: Er spricht treffend von „Erhard Epplers großer Rede“, hebt sie auf die Titelseite und dokumentiert sie im Heft „wegen ihrer tagesübergreifenden Bedeutung ungekürzt“ auf vollen vier Seiten.

In dieser Rede bekennt sich Eppler - 1989 keine Selbstverständlichkeit - klar zur Einheit der Deutschen. "Zu unserer Nation gehört, wer sich dazugehörig fühlt. Und dieses Gefühl, zusammenzugehören, ist nach wie vor lebendig, in der DDR sogar stärker als in der Bundesrepublik." Deshalb dürfe es nicht sein, "dass der Eiserne Vorhang anderswo durchrostet, aber in Deutschland mit Rostschutzmitteln konserviert wird".

Die Angst vor einem „Vierten Reich“

Zugleich erkennt Eppler bereits im ­Juni 1989 die „Angstvisionen“ von Deutschlands Nachbarn vor einem „Vierten Reich“. Auch an ihre Adresse gerichtet verkündet er den Konsens der Bundesrepublik: „Die Deutschen haben, wie alle Völker, ein Recht auf Selbstbestimmung“. Aber: „Dieses Recht ordnen wir den Erfordernissen des Friedens unter.“ Deutschlandpolitik dürfe nur in europäischer Verantwortung betrieben werden. „Das schließt einen deutschen Sonderweg aus.“

Damit versucht Eppler vorausschauend die Ängste zu dämpfen, die wenige Monate später im Prozess der deutschen Einigung virulent werden. „Wir müssen deutlich machen, dass wir nicht Vergangenes restaurieren, sondern Neues schaffen wollen, und zwar gemeinsam mit unseren Nachbarn.“

Schonungslos und treffend wie kein anderer deutscher Politiker analysiert Eppler die Lage der DDR. Die SED zeige „realitätsblinde Selbstgefälligkeit“. So fordert DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker drei Tage zuvor, „den Sozialismus zu verteidigen - notfalls mit der Waffe in der Hand“. Doch Eppler erkennt die tatsächliche Schwäche des Regimes: Die SED bewege sich auf dünnem Eis. „Hier handelt es sich nicht nur um dünnes, sondern um tauendes Eis, um das schmelzende Eis des kalten Krieges. Und wer sich da nicht bewegt, aus Furcht, er könne einbrechen, dürfte dem kalten Wasser nicht entkommen.“ Die SED könne sich nicht „dem Geist des Wandels widersetzen“.

Warum ahnte Eppler mehr als andere?

Einige Monate später wird sich Epplers Prophezeiung vom Untergang des SED-Systems erfüllen. Warum wusste oder ahnte Eppler so viel mehr als andere? „Das kam daher, dass ich damals vielleicht - so seltsam das auch klingen mag - der einzige Politiker der Bundesrepublik gewesen bin, der Kontakt zu allen relevanten Strömungen in der DDR hatte“, erklärt er. Da sind Epplers Kontakte zur SED, mit der er als Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission das gemeinsame Papier über den „Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ erarbeitet. Aber auch seine Kontakte zur DDR-Kirche und den Opposi­tionsgruppen. „Ich war vielleicht der Erste, der überhaupt über den Zusammenbruch der DDR öffentlich nachdachte.“

Entsprechend wütende Reaktionen erntet er von DDR-Seite. Karl-Eduard von Schnitzler, Chefkommentator des DDR-Fernsehens, wirft Eppler eine „hysterische Wiedervereinigungskampagne vor“. Seine Forderung nach Selbstbestimmung sei überflüssig. Die Ostdeutschen hätten von „ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht und ihren von der kapitalistischen Vergangenheit befreiten sozialistischen Staat gegründet“.

Einmischung in „innere Angelegenheiten“ der DDR?

Mit seiner zentralen Forderung legt Eppler zielsicher den Finger in die Wunde des SED-Regimes: „Wer mit der Grundwertekommission der SPD einen Dialog führen kann, der muss auch in der Lage sein, für einen solchen kritischen Dialog mit Bürgern des eigenen Staates einzutreten.“ Eppler weiter: „Vielleicht wird nun wieder der Vorwurf kommen, ich hätte mich in die inneren Angelegenheiten der DDR eingemischt. Das will ich nicht. Aber ich will, dass sich die Bürger der DDR in die inneren Angelegenheiten ihres eigenen Landes einmischen können, und zwar nicht so, wie es die SED für zuträglich hält, auch nicht so, wie uns das gefiele, sondern so, wie sie es selbst für richtig und nötig halten.“

Nur wenige Monate nach seiner Rede sollte genau dieser Wunsch Epplers in Erfüllung gehen: beginnend im September mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig, dann im November mit dem Fall der Berliner Mauer.

Und wie ging es mit dem Tag der Deutschen Einheit weiter? Der 17. Juni erledigte sich mit der Wiedervereinigung. Von 1954 bis 1990 hatte er Bestand. Nach der Herstellung der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wurde der 3. Oktober Nationalfeiertag. Um einen arbeitsfreien Tag einzusparen, überlegte die Bundesregierung im Jahr 2004, den Einheitstag künftig am ersten Sonntag im Oktober zu feiern. Nach dem dies parteiübergreifend auf starke Kritik stieß, wurde der Plan nicht wieder aufgegriffen. Der 3. Oktober ist und bleibt damit der Tag der Deutschen Einheit.

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