Dirk Bleicker
Dieses Credo ist uns heute, in der nachideologischen Zivilgesellschaft, so selbstverständlich, dass wir es kaum noch in Frage stellen. Nun gut, man weiß um die Abhängigkeit von den Anzeigen
und Werbeinseln. Man prüft regelmäßig, ob die publizistische Macht sich nicht zu sehr konzentriere. Aber sonst?
Abhängige Publizistik akzeptieren wir nur noch in der Wirtschaft in Form von Kundenzeitschriften. Denn sie sind keine Informationsmedien, sondern Marketinginstrumente, dazu da, die
Markenbindung zu erhöhen. Was aber ist mit der Parteipresse? lautet die nahe liegende Frage. Um sie zu beantworten, ist ein kurzer Blick in die Geschichte der Presse notwendig. Er zeigt, dass der
simple Begriff "Unabhängigkeit" den Kern der Informationsfreiheit nicht trifft.
Als der Kaufmann James Gordon Bennett 1835 seinen "New York Herald" gründete, verkündete er: Wir werden keine Partei unterstützen, wir sind nicht das Organ irgendeiner Fraktion, und wir
werden auf keinen Parteikandidaten Rücksicht nehmen, egal ob Präsident der Vereinigten Staaten oder Stadtabgeordneter. Keine Frage, der "Herald" war Symbol der neuen informationsoffenen,
demokratischen Gesellschaft, aber auch für die Kommerzialisierung der Informationen: Wichtig ist, was sich gut verkauft.
Parteilichkeit wäre da ein schlechtes Geschäft gewesen, weil man die anders Denkenden nicht bedient hätte: Der Beginn der unabhängigen Massenpresse war mit Kommerzialisierung, diese mit
Boulevardisierung untrennbar verbunden.
Zur selben Zeit kämpften in den deutschen Ländern die Publizisten gegen die Knebelung durch die Staatszensur. Woche für Woche wurden Zeitungen verboten, Redakteure angeklagt und wegen allzu
forscher Ansichten hinter Gitter gebracht. Diese Vorkämpfer für Pressefreiheit waren keine Kaufleute wie Bennett, sondern politische Publizisten, die ihre Kritik an den herrschenden Verhältnissen
mit ihren Vorstellungen von einer freieren Gesellschaft publik machten. So war und blieb die Parteipresse - allen voran der "Vorwärts" und "Der Sozialdemokrat" - bis in die Zeit der Weimarer
Republik ein Streiter für Pressefreiheit. Den Untergang der freien Presse im Zuge der Gleichschaltung durch die Nazis hat ja auch nicht die Parteipresse vorbereitet, sondern der deutschnationale
Hugenberg, dessen Pressekonzern mit Hilfe des Großindustriellen Stinnes ein Agentur- und Anzeigenmonopol errichtete und die übrige Presse systematisch ruinierte.
Geburtshelfer der modernen Gesellschaft waren demnach die Zeitungen der demokratischen Parteien. Sie agierten unabhängig vom Kapital der Großindustrie und von der Staatsbürokratie - aber
abhängig von ihrer politischen Gesinnung. Die deutschen Publizisten bestünden mit überraschender Pingeligkeit auf ihrer gewissenhaften Überzeugung, staunte der britische Publizist Sidney Whitman,
als er zu Bismarcks Zeiten das Deutsche Reich bereiste. Er ahnte nicht, wie manipulierbar diese Überzeugungstäter dennoch waren.
Heute, in der nachideologischen Ära, sind viele so genannte unabhängige Medien in Wahrheit fest eingebunden in ökonomische Zwänge und Abhängigkeiten. Daraus folgt freilich nicht, dass eine
Wiederkehr der Parteilichkeit erwünscht sei. In der offenen Gesellschaft kommt es auf Offenheit an, auf die Transparenz der Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse. Dies könnte eine Aufgabe der
sozialdemokratischen Parteipresse sein: Dank ihrer institutionellen Bindung ist sie wirtschaftlich nicht korrumpiert, ich hoffe: nicht erpressbar. Sie besitzt damit jene spezifische
Glaubwürdigkeit, die aus der Bindung erwächst - als Forum für die Parteimitglieder, als Positionierung für alle politisch Interessierten und, nicht zuletzt, als kritischer Journalismus, der die
geheuchelte Unabhängigkeit sogenannter Meinungsmacher entschleiert und deren Abhängigkeitsverhältnisse offen legt.
MICHAEL HALLER leitet den Lehrstuhl Journalistik an der Universität Leipzig.
Quelle vorwärts 10/2001