Die Bildung von Gewerkschaften konnte das Sozialistengesetz von 1878 nicht verhindern. Dies schafte auch nicht die auf soziale Harmonisierung zielende Bismarcksche Sozialversicherungspolitik. Im Gegenteil: Angesichts der forcierten Industrialisierung Deutschlands im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gab es gegen Ende der Repressionsperiode 1890 sechs mal so viele Mitglieder sozialdemokratischer, freier Gewerkschaften wie zu deren Beginn.

Trotz dieses Erfolgs standen die noch ungefestigten Gewerkschaften relativ schutzlos Massenaussperrungen, verlustreichen Arbeitskämpfen und der Gründung von Anti-Streik-Vereinen der Unternehmer gegenüber. Die Gewerkschaften reagierten auf diese ihre Existenz bedrohenden Organisationsprobleme mit der Einrichtung einer provisorischen „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ (1890).

Neben der Unterstützung der Gewerkschaften bei der Mitgliederwerbung und bei Arbeitskämpfen sollte die Generalkommission einen allgemeinen Kongress der Gewerkschaften vorbereiten und einberufen. Dieser „Erste Kongress der Gewerkschaften Deutschlands“, auf dem 208 Delegierte etwa 300000 Gewerkschaftsmitglieder vertraten, fand vom 14. bis 18. März 1892 in Halberstadt statt.

Von dem Kongress gingen wegweisende Weichenstellungen für die organisationspolitische Entwicklung der freien Gewerkschaften aus. Die Mehrheit der Delegierten erteilte autonomen Lokalverbänden, die ökonomische und politische Interessen zugleich vertraten, eine Absage. Stattdessen votierten die Delegierten für die Bildung reichsweiter Zentralverbände als verpflichtendes Organisationsprinzip der Gewerkschaften. Auf dieser Entscheidung basierte die zukünftige Arbeitsteilung zwischen SPD und Gewerkschaften.

Aber erst nach zähem Ringen konnten die Gewerkschaften den Führungsanspruch der Partei zurückweisen und die Anerkennung als gleichberechtigte Organisation durchsetzen. Ebenso befürworteten die Delegierten in Halberstadt den Berufsverband als Organisationsprinzip der Zentralverbände, da die Gewerkschaften noch überwiegend handwerklich geprägte Facharbeiter in Kleinbetrieben rekrutierten. Zukunftsweisend war der Kompromiss, die Bildung von Industrieverbänden zu erlauben. Auf lange Sicht wurde so ein Organisationsprinzip akzeptiert, das bereits im Kaiserreich einzelne Verbände anwandten.

Während der Weimarer Republik grundsätzlich angestrebt, bestimmte dieses Prinzip nach dem Zweiten Weltkrieg den Neuaufbau der Gewerkschaften. Zukunftsweisend war schließlich der Kongressbeschluss, die provisorische Generalkommission als überverbandliches Gremium weiterzuführen. Carl Legien verstand es, das anfänglich einflussarme Büro zum Zentrum der freien Gewerkschaften auszubauen. 1919 entstand hieraus der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB).

Autor*in
Peter Rütters

ist Dozent am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der Freien Universität Berlin.

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