Zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels: Der Unterschätzte
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Stellen Sie sich vor, es gäbe in diesem Jahr einen Oscar für die beste Nebenrolle der Ideengeschichte. And the Winner is this boy from Barmen: Friedrich Engels, der ewige Zweite. Der jüngere der beiden „geistigen Zwillinge“. Jener bescheidene Herr, der von sich selbst sagte, mehr als „zweite Violine“ hinter Konzertmeister Marx sei nicht drin.
So tragisch. So falsch. Warum um Himmelswillen hat er dieses Bild gepflegt? Wir wollen jetzt die „Heilige Zweifaltigkeit“ trennen. Denn wie oft, ist so ein Leben spannender, facettenreicher, mehrdeutiger, komplizierter und schöner als uns die Glaubenskongregationen dieser Welt weißmachen wollen. Da unterscheiden sich die orthodoxen Marxisten nicht vom Vatikan.
Der reiche Sprössling
Friedrich Engels stammt aus einem Ort, der früher zur preußischen Provinz Jülich-Kleve-Berg und heute zu Wuppertal gehört. Er wurde als ältestes von neun Kindern in familiäre Sanssouci-Verhältnisse geboren: der Vater Baumwollfabrikant, mit einer großen Produktion im englischen Manchester, wo die arbeitende Bevölkerung unter elendigsten sozialen Verhältnissen zum Wohlstand der Familie beitrug. Aber der Alte, Friedrich Senior, war auch ein beinharter Pietist – was in Friedrich Juniors sauberer, pflichtbewusster Attitüde ein Leben lang durchschien. Max Weber hätte seine Freude gehabt.
Der Vater schickte ihn auf ein humanistisches Gymnasium, wo Friedrich sich für liberale Ideen zu begeistern begann. Sohn und Vater gerieten bald aneinander, sodass dieser seine Schulwahl korrigierte: Ein Jahr vor dem Abschluss steckte er Friedrich in die kaufmännische Lehre nach Bremen. Das war ein Fehler. Denn das weltoffene Bremen, wo Handel eben auch Wandel bedeutete, ließ ihm die Luft, die er brauchte, um zum Journalisten, Dichter, politischen Denker und Revolutionär Friedrich Engels zu werden. Er rechnete öffentlich mit dem radikalen Wuppertaler Pietismus ab und schrieb allerlei Literarisches und Politisches – gefördert von Ludwig Börne und Ferdinand Freiligrath.
Kein Marxismus ohne Engels
„Ohne ihn“ (so sein Biograf Michael Krätke), wäre Marx nicht oder spät zur politischen Ökonomie gekommen. Ohne ihn, der mit eigenen Augen das elende Leben der Industriearbeiter in Manchester sah und beschrieb, hätte Marx die Arbeiterschaft seiner Zeit nie oder spät kennengelernt. Marx war Philosoph und Jurist und hatte zuvor noch nie eine Fabrik von innen gesehen. Ohne den wohlhabenden Unternehmer hätte die Familie Marx im britischen Exil nicht überlebt, Marx nicht arbeiten können. Gleichwohl ging Marx-Gattin Jenny, die eifersüchtig auf den Mann war, mit dem sie ihren Karl teilen musste, zeitlebens auf Distanz zu Engels. Ohne ihn hätte es den Marxismus nie gegeben.
„Wer von Engels reden will, kommt um Marx nicht herum“ (Krätke). Mag sein, aber Engels als Muse und Mäzen, als Handlanger des Marx‘schen Werkes zu klassifizieren, wie es oft und gern getan wurde, ist Unfug. Denn: Ohne Engels hätte es in Europa auch keine sozialistische Arbeiterbewegung gegeben. Er vollendete „Das Kapital“. Er edierte auch Marx‘ andere Schriften minutiös. Er war so der Schöpfer des „Marxismus“. Ja, er popularisierte ihn auch, das liegt in der Natur der Sache, schrieb Artikel und Rezensionen, in denen er die hehre Marx-Theorie für nicht akademisch gebildete Arbeiter und Arbeiterinnen in Deutsche übersetzte.
Der Welt- und Bildungsbürger
Engels war, was man auf Deutsch einen Bildungs-Allrounder nennt, sprach zwölf Sprachen und verstand zwanzig weitere. Und er war stolz darauf. Außerdem proper, gepflegt, groß, schlank, sportlich, elegant gekleidet, ein Kosmopolit und Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Er liebte Kriegsstrategien, teilte die Amüsements der oberen Zehntausend, ritt bei Fuchsjagden in Lancshire gerne mit. Aber auf Betreiben seiner Freundin, die irischer Herkunft war und sehr patriotisch fühlte, wurde mehr als ein irischer Aufrührer, von denen es in Manchester einige gab, von Engels vor dem Galgen bewahrt. Er war einer der gelehrtesten Männer Europas, aber nie pedantisch; bei sich selbst sparsam und sauber, bei anderen freigiebig und großzügig; distinguiert im Denken, aber auch ein heiterer, „frivoler Mensch“, ein „lustiger Kumpan, der einen guten Tropfen zu würdigen wusste“.
Der Freund
„Lieber Boy“, schrieb Marx 1865, nach dem Tod seines Sohns Edgar an Engels, „unter all diesen Umständen fühlt man more than ever das Glück solche Freundschaft, wie sie zwischen uns existiert.“ Ja, enge Freunde, das waren sie. Geistig ebenbürtig auch. Engels gab zudem Geld und noch viel mehr. Gut organisiert, wie er war, schrieb er Artikel zu Ende, die Marx nicht fristgerecht fertigbekommen hatte – unter dessen Namen. Und er befreite ihn von einer Peinlichkeit par excellence: Frederik Demuth, dem ungeliebten Sohn, den Marx mit seiner Hausangestellten Helene gezeugt hatte. Engels nahm ihn als Sohn an, bezahlte seine Ausbildung und verheimlichte Karls Vaterschaft bis kurz vor seinem eigenen Tod.
Engels ein Revolutionär?
Hatte Engels eigentlich keine Angst, von seinen eigenen antikapitalistischen Ideen hinweggefegt zu werden? Hatte er zwei Seelen in seiner Brust?
Unternehmer war er nicht die ganze Zeit. Wir reden hier über die Zeit nach der 1848er-Revolution! Noch im Frühjahr 1849 kämpfte er in Baden mit Friedrich Hecker für Demokratie und Republik! Als das schiefging, floh er, steckbrieflich gesucht, über die Schweiz nach England. Das Problem: Finanziell war er blank. Sein Freund Marx, den es inzwischen nach London verschlagen hatte, auch. Also verdingte Engels sich als Prokurist in Manchester in der väterlichen Firma. Er nannte das den „hündischen Commerce“. Paul Lafargue, Schwiegersohn von Marx, attestiere Engels eine Art Doppelleben – von Montag bis Samstag Kaufmann, am Wochenende ein stadtflüchtiger politischer Journalist. Neun Jahre nach dem Tod des Vaters verkaufte er seine geerbten Firmenanteile. Also: Zwei Seelen? Ja!
Engels ein Revolutionär? Eigentlich nicht. Schon Marx meinte, nach seiner Utopie vom Kommunismus gefragt: „Morgens fischen, mittags jagen und abends kritisieren.“ Der Kampf um materielle Interessen war die wichtigste Triebfeder für die politische und gesellschaftliche Entwicklung. Der erste Marxist, Engels, wollte materielle Fortschritte. Allen sollte es besser gehen. Aus Armut könne kein Sozialismus entstehen. Und er wollte politische Teilhabe. Als die SPD im Reichstag Fuß fasste, war seine Devise: „Dann marschieren wir ins Parlament!“ 1895 feierte er ihre Wahlerfolge. Wenn man zu wählen hätte, wessen Urvater er war – KPD/SED oder SPD/SI – ist die Entscheidung klar: der der Sozialdemokratie. Der Historiker Eberhard Illner meinte, dass Engels Anarchismus und Putschismus letztlich abgelehnt habe. Reform statt Revolution. Und am Ende bestimmte der große Friedrich Engels ausgerechnet den Realo Eduard Bernstein zu seinem Testamentsvollstrecker. Passt doch!
Engels ein Massenmörder?
Ist also nichts dran an dem Vorwurf, Engels sei mitverantwortlich für die Opfer von Lenin, Stalin und Mao? Hat er dem Realsozialismus nicht mit seinem populären Marxverständnis Tür und Tor geöffnet? Gegenfrage: Was haben Lenin, Stalin und Mao vom Marxismus wirklich verstanden oder verstehen wollen? Da liegt die Antwort. „Von Planwirtschaft und neuen Eliten als Avantgarde der Partei war nie die Rede“, so Illner. Den Terror der Bolschewiki hätte Engels sicher niemals akzeptiert.
*Geboren wurde Friedrich Engels am 28. November 1820 in Barmen (heute ein Stadtteil von Wuppertal)
ist Historiker und Leiter des traditionsreichen Verlags J. H. W. Dietz Nachf.