Geschichte

Wo Karl Marx in Deutschland wieder gefragt ist

Trier und Chemnitz sind eng mit Karl Marx verbunden: In der Stadt an der Mosel wurde er geboren, die sächsische Großstadt musste zur DDR-Zeit seinen Namen tragen. Wie gehen die beiden Kommunen heute mit ihrem historischen Erbe um? Ein Ortsbesuch in West und Ost
von Kai Doering · 26. April 2018
Unübersehbar: Karl Marx-Kopf in Chemnitz
Unübersehbar: Karl Marx-Kopf in Chemnitz

Er lässt sich jetzt einen Bart wachsen, seit Anfang des Jahres schon. Kinn und Wangen von Wulf Lakemeier sind bereits unter dichten weißen Haaren verschwunden. Und auch den Kopf des 73-Jährigen hat schon länger kein Friseur mehr gesehen. In den kommenden Wochen sollen die Haare noch länger werden. Mit schwarzem Jackett und Zylinder ist Wulf Lakemeier aber schon jetzt deutlich als der zu erkennen, den er in den kommenden Monaten verkörpern möchte: Karl Marx.

Chemnitz: Mit einem Marx-Double unterwegs

Im Wechsel mit einer Kollegin wird der Chemnitzer Gästeführer aus Briefen vortragen, die sich Marx und seine Frau Jenny geschrieben haben. „Zwie­gesprächen zwischen Karl und Jenny ­gelauscht“ lautet der Titel der Kostümführung, die am 5. Mai ihre Premiere feiern wird. Datum und Startpunkt der Führung sind dabei bewusst gewählt: Am 5. Mai ist der 200. Geburtstag von Marx. Die kostümierten ­Gästeführer werden ihre „Zwiegespräche“ am Karl-Marx-Monument beginnen, das die Chemnitzer liebevoll-spöttisch ­„Nischel“ nennen, mitteldeutsch für Kopf oder Schädel.

„Wir wollen aus den Führungen Kapital schlagen“, sagt Wulf Lakemeier in Anspielung auf Marx’ Hauptwerk und grinst. Dabei wird der Eintritt zumindest an diesem Tag frei sein. Die Kostümführung ist wie elf weitere Veranstaltungen ein Geschenk des Vereins der Gästeführer Chemnitz an die Stadt, die in diesem Jahr den 875. Jahrestag ihrer Ersterwähnung feiert. Trotz Wulf Lakemeier als Double wird Karl Marx dabei nur eine untergeordnete Rolle spielen – und das, obwohl die Stadt nahe des Erzgebirges 37 Jahre lang den Namen des in Trier geborenen Philosophen trug.

Stalin starb, Marx blieb

„Karl Marx ist hier verbrannt“, meint Edeltraud Höfer. „Wir haben nichts mehr mit ihm zu tun, außer dass uns damals der Name übergestülpt wurde.“ Höfer wurde 1955 in Karl-Marx-Stadt geboren. Zwei Jahre zuvor hatte die Führung der DDR entschieden, dass Chemnitz fortan „den stolzen und verpflichtenden Namen ‚Karl-Marx-Stadt’“ tragen solle, wie Ministerpräsident Otto Grotewohl am 10. Mai 1953 in einer Ansprache betonte. Edeltraud Höfer, die ebenfalls Gäste durch Chemnitz führt, spielt den Ausschnitt der Rede auf ihrem Tablet vor.

Dabei wäre der Kelch der Umbenennung fast an der drittgrößten Stadt Sachsens vorbeigegangen. „Eigentlich sollte Eisenhüttenstadt nach Marx benannt werden“, erzählt Höfer. Der Ort war erst 1950 als sozialistische Wohnstadt für das Eisenhüttenkombinat Ost gegründet worden. „Doch dann starb Stalin.“ So wurde die Planstadt nach dem sowjetischen Diktator benannt – „und der Name Karl Marx blieb übrig“. Weil sich die Leipziger standhaft gegen eine Umbenennung wehrten, traf es schließlich Chemnitz.

Nicht geliebt, aber akzeptiert

Dabei gab es durchaus Bezüge zu dem großen Denker aus dem Westen, auch wenn Marx selbst nie in Chemnitz gewesen ist. Bereits 1928 trug ein Platz nahe der Innenstadt seinen Namen. Er soll der erste Karl-Marx-Platz in Deutschland gewesen sein. Später wurde er umbenannt, doch noch immer steht die erste Skulptur, die Karl Marx und ­Friedrich Engels gemeinsam zeigte und die die DDR-Staatsführung der Stadt 1957 schenkte. „Angeblich hatte Walter Ulbricht das Denkmal eigentlich für Berlin in Auftrag gegeben, aber es gefiel ihm nicht“, erzählt Edeltraud Höfer.

Weitaus bekannter als die Darstellung der beiden Freunde ist aber das Karl-Marx-Monument im Zentrum der Stadt. Geschaffen vom sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel wirft die 40 Tonnen schwere Bronzebüste seit dem 9. Oktober 1971 ihren strengen Blick über den weitläufigen Platz vor ihr. Hinter dem Kopf prangt in großen Buchstaben in deutscher, englischer, französischer und russischer Sprache der letzte Satz des kommunistischen Manifests „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ auf einer überdimensionalen Tafel. „Bei der Enthüllung des Marx-Kopfes war auch sein Urenkel Robert-Jean Longuet dabei“, erinnert sich Edeltraud Höfer. Als 16-jährige Schülerin war die Feierstunde für sie ein Pflichttermin. Geliebt worden sei der „Nischel“ nie, „aber die Chemnitzer akzeptieren ihn“.

Der ideale Zeitpunkt ist jetzt

Auch als die Stadtverordnetenversammlung im Juni 1990 nach einer Bürgerbefragung, bei der 76 Prozent für Chemnitz als neuen alten Stadtnamen votierten, die Rückbenennung beschloss, blieb der überdimensionale Kopf unangetastet. „Obwohl es Stimmen gab, die seinen Abriss forderten.“ Die Stadt Köln habe sogar angeboten, das Marx-Monument zu kaufen. „Für mich ist der Kopf eine Erinnerung an unsere Stadtgeschichte“, sagt Edeltraud Höfer. „Wir könnten ihn aber besser vermarkten.“ Etwas neidisch blickt die Gästeführerin deshalb Richtung Westen. „Die Trierer haben die Umsetzung von Marx’ Ideen nicht am eigenen Leib erlebt, profitieren aber von ihm“, sagt sie.

Diesen Einwand will Wolfram Leibe nicht gelten lassen. „Es ist nicht unsere Absicht, aus Marx Kapital zu schlagen“, sagt der Trierer SPD-Oberbürgermeister. Er gibt aber zu: „Für uns in Trier ist es sicher einfacher, eine gewisse Leichtigkeit beim Thema Marx zu zeigen.“ Die Planungen für das Marx-Jubiläum laufen bei ihm im Rathaus schon seit mehreren Jahren. Zwischen dem 5. Mai und dem 21. Oktober wird es mehr als 600 Veranstaltungen rund um den berühmtesten Sohn der Stadt geben – vom Musical bis zum Fachkongress. Herzstück sind zwei große Ausstellungen im Rheinischen Landesmuseum sowie im Stadtmuseum, die sich mit Marx’ Leben, seinem Werk und seiner Zeit beschäftigen. „Jetzt ist der ideale Zeitpunkt, sich mit Karl Marx auseinanderzusetzen“, ist Wolfram Leibe überzeugt.

Trier: Marx macht stolz

Vor 20 oder 30 Jahren wäre das viel schwieriger gewesen. „Mein Eindruck ist, dass die Menschen heute deutlich offener an Marx herangehen als noch vor einigen Jahren.“ Dabei spiele der zeitliche Abstand zur DDR ebenso eine Rolle wie die Finanzkrise Ende der 2000er Jahre. Und doch sei Marx auch heute nicht einfach zu vermitteln. „Unser Ziel ist, Marx begreifbar zu machen“, erklärt Leibe. In der Innenstadt hat der Oberbürgermeister deshalb an markanten Stellen Ampeln anbringen lassen, bei denen das rote und das grüne Männchen durch Marx-Figuren ersetzt wurden. In der Touristen­information neben der Porta Nigra, dem Wahrzeichen Triers, können Interessierte einen Marx-Comic, Marx-Feuerzeuge, Marx-Kühlschrankmagnete oder eine Marx-Badeente kaufen. „Wir wollen Marx eine Leichtigkeit geben, ohne zu banalisieren“, sagt ­Wolfram Leibe.

In diesem Sinne ist wohl auch die Quiz-Tour zu verstehen, die Gästeführerin Anne Boeck mit einigen ihrer Kollegen anbietet. Unter der Überschrift „Dichtung und Wahrheit“ führt sie Interessierte durch Trier und stellt sie an bestimmten Orten vor die Wahl, ob ein Ereignis dort tatsächlich stattgefunden hat, ein Satz wirklich gefallen ist. „Marx wird seit ein paar Jahren in Trier wiederbelebt“, hat auch Boeck beobachtet. In diesem Jahr würden auch die Marx-Führungen stärker nachgefragt – wenngleich das Interesse am römischen Erbe wie der Porta Nigra und den Kaiser­thermen noch immer deutlich größer sei.

Mit der Gästeführerin geht es vom ehemaligen Wohnhaus der Familie Marx an der Porta Nigra, das heute ein Privathaus ist und im Erdgeschoss einen Ein-Euro-Laden beherbergt, vorbei an Marx’ ehemaliger Schule, auf der er 1835 mit einem Notendurchschnitt von 2,4 das Abitur ablegte, bis zum Elternhaus von Jenny von Westphalen, die Marx 1843 heiratete. „Sie war zu ihrer Zeit wohl das hübscheste Mädchen von Trier“, erzählt Anne Boeck und zeigt auf die Bronze­platte mit einem Porträt, das an der hellblauen Fassade an Jenny erinnert. Im Haus ist heute eine Bank-Filiale untergebracht.

Hier hat er gearbeitet

Schlusspunkt der Tour ist ein zweistöckiges Haus in der Brückenstraße. „Willkommen im Karl-Marx-Viertel“ steht auf einem roten Plakat an einem kleinen Supermarkt am Anfang der Straße. „Die Menschen, die hier wohnen, haben diesem Teil von Trier selbst den Namen gegeben – durchaus mit Stolz“, erzählt Anne Boeck. Einige Häuser weiter schmiegt sich ein zweistöckiges Gebäude mit einem Schieferdach zwischen zwei höhere Häuser. In der Brückenstraße Nummer 10 wurde Karl Marx am 5. Mai 1818 als drittes von neun Kindern des Anwalts Heinrich Marx und seiner Frau Henriette geboren.

An einem Vormittag im ­April fährt ein weißer VW-Bus mit wertvoller Fracht vor dem Haus vor. Zwei Männer öffnen den Kofferraum und tragen vorsichtig einen alten Sessel ins Haus. Der beigefarbene Bezug ist an vielen Stellen abgewetzt, im dunklen ­Eichenholz sind tiefe Kratzer. Im ehemaligen Kanzlei-Raum von Heinrich Marx stellen die Männer das Möbelstück aufs Parkett. „In diesem Sessel ist Karl Marx sehr wahrscheinlich gestorben“, erzählt Elisabeth Neu. Sie leitet das Karl-Marx-Haus, ein Museum über Leben, Werk und Wirkungsgeschichte des Philosophen, das die Friedrich-Ebert-Stiftung seit 1968 betreibt. Zu Marx’ 200. Geburtstag wird im Haus eine neue Dauerausstellung eröffnet. „Der Sessel, in dem Marx gelesen und gearbeitet hat, wird einer der Höhepunkte sein“, sagt Neu.

Ein Sessel als Symbol

Bereits 2014 hat ihn die Friedrich-Ebert-Stiftung von Marx’ Nachfahren in Paris erworben. Seither lagerte er in Bonn im Archiv. Nun soll er einen eigenen Raum in der neuen Ausstellung bekommen „Wir wollen aber keinen neuen Wallfahrtsort schaffen“, beruhigt Ann-Katrin Thomm, die Kuratorin der Schau. „Wir verstehen den Sessel eher als Symbol: Sein Besitzer ist gestorben, aber Marx’ Ideen leben weiter.“ Den Besuchern der Ausstellung verspricht sie „die Möglichkeit eines intimen Moments mit Marx“.

Die Ausstellung ist die vierte seit der Eröffnung des Karl-Marx-Hauses 1968. „Die vorherige endete bei der Wiedervereinigung“, erzählt Elisabeth Neu. Kein Wunder also, dass ein Schwerpunkt künftig auf Marx’ Wirkung bis in die Gegenwart liegen wird, ohne dabei Lebensgeschichte und Werk des Philosophen auszublenden. „Was hat Marx mit uns heute zu tun? Diese Frage wollen wir beantworten“, sagt Elisabeth Neu. Geht es nach Triers Oberbürgermeister Wolfram Leibe, beginnt die Diskussion über Marx ohnehin erst mit dem Jubiläumsjahr. „Ich würde mich freuen, wenn die Menschen nach der letzten Veranstaltung sagen: ‚Es hat sich gelohnt, aber ich habe noch ein paar Fragen.‘“

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare