Willy Brandts Kniefall: Warum bloßes Erinnern nicht ausreicht
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Am heutigen 7. Dezember ist es 52 Jahre her, dass Willy Brandt vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos auf die Knie sank. Nur 25 Jahre trennten seine historische Geste damals vom Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Herbst 1945 hatte der Exilant und Widerstandskämpfer Brandt erstmals wieder deutschen Boden betreten, um für skandinavische Zeitungen über den Nürnberger Prozess zu berichten; im Dezember 1970 ging das Bild seines Kniefalls um die Welt.
Der erste sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik war in die polnische Hauptstadt gereist, um den Warschauer Vertrag zu unterzeichnen. Realpolitischer Kern dieses Kapitels der Neuen Ostpolitik war die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze – die moralische Dimension aber schien wie durch ein Brennglas gebündelt in jener halben Minute auf, die Brandt stumm und knieend vor dem Denkmal verharrte. Dem Spiegel gab er am Abend zu Protokoll, er habe mit seinem Kniefall „im Namen unseres Volkes Abbitte leisten wollen für ein millionenfaches Verbrechen, das im mißbrauchten deutschen Namen verübt wurde“.
Das Bild des Kniefalls ist zur Ikone geworden
Viele Male wurde seither an Brandts Kniefall erinnert, die Deutung des stellvertretenden Reuebekenntnisses eines Unschuldigen wiederholt, über Spontaneität und Intention der Geste gemutmaßt, über seine Wirkungsmacht diskutiert. Das Bild des Kniefalls ist zur Ikone geworden, zum „Erinnerungsort“, zum Markenzeichen, ja zum fast zeitlosen „Branding“ deutscher Selbstgewissheit angesichts einer „Vergangenheitsbewältigung“, die zwar steinig und langwierig war, aber dennoch gerne als Erfolgsgeschichte gepriesen wird.
Es gibt viele Gründe, zu diesem 52. Jahrestag erneut an Brandts mutige Geste zu erinnern, mit der er nicht zuletzt der eigenen Gesellschaft den Spiegel vorhielt. Dieses Erinnern kann aber nur dann produktiv für unser heutiges Geschichtsbewusstsein werden, wenn wir uns wieder mehr mit dem historischen Kontext, Bezugsrahmen und Resonanzraum des Kniefalls auseinandersetzen.
Schmähbriefe und Morddrohungen an Willy Brandt
Zunächst gilt es daran zu erinnern, dass damals laut einer repräsentativen Blitzumfrage nur 41 Prozent der Bundesdeutschen den Kniefall für „angemessen“ hielten. Fast die Hälfte lehnte die Geste als „übertrieben“ ab, bei den 30- bis 60-Jährigen waren es sogar 54 Prozent. Der ehemalige DGB-Vorsitzende Ludwig Rosenberg – er war 1933 als Jude, Gewerkschafter und Sozialdemokrat vor den Nationalsozialisten geflohen und nach dem Krieg zurückgekehrt – prognostizierte am Tag nach dem Kniefall, dass Willy Brandt nun wohl erneut zum „Ziel gehässiger Angriffe“ derer werde, die „mit verlogenen Emotionen politisches Geschäft und persönliche Diffamierung“ zu betreiben versuchten.
Wenig später war in Leserbriefen an den Spiegel von einem „Canossagang“ Brandts und von einem knieenden „deutschen Judas“ zu lesen, der „langsam, aber sicher ganz Deutschland verkaufen wird“. Und schon vor seiner Reise nach Warschau hatte der Kanzler neben Morddrohungen auch Zuschriften von Menschen erhalten, die das zu unterzeichnende Abkommen mit Polen in altbekanntem Vokabular als „Schandvertrag“ bezeichneten.
Die völkisch-nationalistischen Parolen sind nicht verschwunden
So anachronistisch derartige Aussagen schon damals all jenen erschienen sein müssen, die wussten, dass – wie Brandt es in seiner Fernsehansprache am 7. Dezember 1970 erklärte – mit dem Warschauer Vertrag nichts „preisgegeben“ wurde, was vom „verbrecherischen Regime“ des Nationalsozialismus „nicht längst verspielt worden“ war: Verschwunden sind solche völkisch-nationalistischen Parolen bis heute nicht, vielmehr erleben sie derzeit ein schauerliches Comeback.
Nicht nur offen neonazistische Plattformen wie das Internetportal „volksberichtshof.de“ sprechen vom Kniefall als „Geste der Schmach“ und „niederträchtigster Unterwürfigkeitsgeste eines deutschen Regierungsoberhauptes“. Auch ein AfD-Landtagsabgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern bezeichnete Brandts Kniefall 2016 als „Verrat an unserer historischen Heimat“. Äußerungen dieser Couleur, die uns seit dem Einzug der AfD in den Bundestag und neuerdings auch in den rechtsextrem unterwanderten Protesten der „Corona-Leugner“ vermehrt begegnen, erteilte Brandt damals eine klare Absage: Wer das „Bemühen um Aussöhnung und Frieden“ als Verbrechen bezeichne und überdies auch noch mit den Untaten des Nationalsozialismus gleichsetze, mit dem werde er nicht diskutieren.
Die Brutalität der Deutschen in Polen wurde augeblendet
Der Kniefall erinnert uns auch an eine weitere „Baustelle“ im Umgang mit der NS-Vergangenheit: „Wir dürfen nicht vergessen“, so mahnte Brandt damals das deutsche Fernsehpublikum, „daß dem polnischen Volk nach 1939 das Schlimmste zugefügt wurde, was es in seiner Geschichte hat durchmachen müssen“. Dieses „Schlimmste“ wurde und wird bis heute zwar von der Geschichtswissenschaft detailliert erforscht, ist aber leider kaum in das Bewusstsein und Alltagswissen unserer Gesellschaft eingedrungen. Mit welcher Brutalität und Geschwindigkeit der deutsche Vernichtungskrieg in Polen seinen Anfang nahm, wurde rückblickend – im Schatten eines in alle Himmelsrichtungen ausgeweiteten Krieges – allzu oft und schnell in Geschichtsbüchern und Gedenkreden übergangen.
Allein in den ersten Wochen nach dem Überfall auf Polen wurden neben unzähligen Soldaten auch Zehntausende von Zivilisten gezielt von Wehrmacht und SS ermordet. Die Besatzungspolitik der Nationalsozialisten richtete sich gegen die gesamte polnische Bevölkerung – und in besonders grausamer und systematischer Weise gegen die dreieinhalb Millionen polnischen Jüdinnen und Juden, von denen nur gut zehn Prozent den Völkermord überlebten.
Sich der Vergangenheit stellen
Mit den im vergangenen Jahr verabschiedeten Anträgen zur Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte der deutschen Besatzung und des Vernichtungskriegs in Europa sowie zur Errichtung eines Gedenkortes speziell für die polnischen Opfer hat der Bundestag nach schwierigen, aber produktiven Debatten einen Anstoß gegeben, dieser Dimension der NS-Vergangenheit und des Zweiten Weltkriegs sowohl in der historisch-politischen Bildung als auch auf der symbolischen Ebene des Gedenkens einen größeren Stellenwert einzuräumen.
Es reicht nicht, uns die Momentaufnahme des Kniefalls als ein universelles und überzeitliches Symbol historischen Verantwortungsbewusstsein zu eigen zu machen – erst recht nicht in einer Gesellschaft, deren Mehrheit keine eigenen Erinnerungen mehr an die Zeit vor 75 und vor 50 Jahren hat. Wenn wir dem Vermächtnis Willy Brandts gerecht werden wollen, müssen wir uns zugleich daran erinnern, dass auch heute alte und neue Aufgaben in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf uns warten. Bildung, Aufklärung und Debatten sind dafür mindestens ebenso wichtig wie Symbole und Gesten.
Zum Weiterlesen:
Kristina Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1990, Wallstein Verlag 2015, ISBN 978-3-8353-1399-6 (2015)
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ist Sprecherin des SPD-Geschichtsforums und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung.