Geschichte

Willy Brandt: Überragend und einmalig

von Hans-Dietrich Genscher · 12. September 2013

Willy Brandt gehört zu den wenigen Jahrhundertpersönlichkeiten Deutschlands im 20. Jahrhundert. In seiner Vita spiegelt sich in einmaliger Weise deutsches Schicksal wider. In der Politikergeneration, die den Zeitraum der Weimarer Republik, des faschistischen Deutschlands, des geteilten und schließlich vereinten Landes umfasst, ragt er heraus durch die Konsequenz seines Weges gegen staatliches Unrecht in seinen verschiedenen Formen, für Menschenrechte und Demokratie.

Der politische Lebensweg Willy Brandts ist immer wieder facettenreich beschrieben worden. Der Emigrant, der um der Freiheit willen sein Land verließ; der Bürgermeister von Berlin, der für die Freiheit der Stadt seine weltweit gehörte Stimme erhob; der Bundeskanzler, der eine Mauer alten Denkens durchbrach, um eine schreckliche Mauer, an der Menschen sterben mussten, die zueinander wollten, zu Fall zu bringen. Willy Brandt war eine faszinierende Persönlichkeit. Er hatte Charisma. Zur Einmaligkeit seiner Persönlichkeit gehörte seine Glaubwürdigkeit. Sie ließ ihm die Herzen der Menschen zufliegen. In einer Zeit zunehmender Zweifel einer jungen Generation an der Glaubwürdigkeit der Politik und ihrer Akteure gab er diese Glaubwürdigkeit der älteren Generation, der er sich nun zuzurechnen hatte, zurück. So wurde er, der Mann des politischen Widerstands, zum Versöhner der Jungen mit der Generation der von den dunklen zwölf Jahren Gezeichneten.

Als er am 21. Oktober 1969 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde, war das mehr als ein Wechsel im Kanzleramt. Dieser Bundeskanzler wurde zum Symbol eines anderen, eines besseren Deutschland. Ich habe die Ehre gehabt, mit diesem großen Bundeskanzler zunächst als Mitglied seiner Regierung, als Bundesminister des Innern zusammenarbeiten zu dürfen, und danach, das heißt nach seinem Ausscheiden als Bundeskanzler und nach meiner Ernennung zum Vizekanzler und Außenminister, in unserer jeweiligen Eigenschaft als Vorsitzende unserer Parteien.

Eine Koalition birgt in sich alle Spannungen zweier selbstständiger und unabhängiger Parteien, die sich zur Übernahme gemeinsamer Verantwortung entschlossen haben. Das verlangt auf beiden Seiten den Willen zu konstruktiver Zusammenarbeit, gegenseitige Achtung und beiderseitige Fairness. Es entsprach der inneren Haltung dieser großen Persönlichkeit, dass er der FDP diese Zusammenarbeit in jeder Hinsicht erleichterte. Die Trennung unserer Parteien als Folge der inneren Gegensätze in der Sozialdemokratischen Partei war für mich eine bittere Konsequenz aus den inneren Problemen des Koalitionspartners. Die Haltung Willy Brandts nach Trennung unserer Parteien bestätigte die Größe des ebenso fairen wie noblen Mannes.
Willy Brandt hat durch sein Beispiel, seinen Lebensweg und seine staatsmännischen Leistungen beigetragen, dass wir Deutschen den Weg zurück in die Gemeinschaft der Demokratien finden konnten. Ihm dafür dankbar zu sein, haben wir nicht nur an dem Tage Anlass, an dem er das 100. Lebensjahr vollendet haben würde. Diesen Dank schulden ihm auch alle künftigen Generationen.

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Hans-Dietrich Genscher

war von 1969 bis 1974 Bundesinnenminister in der Regierung Brandt. Bis in die 1980er Jahre arbeiteten beide als Parteivorsitzende mal mit-, mal gegeneinander.

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