Geschichte

Willy Brandt: Familie blieb ein Wagnis

von Torsten Körner · 5. März 2013

Sein Zuhause war die Welt, nicht die Familie. Frau und Kindern nah zu sein, fiel ihm schwer. In glücklichen Momenten gelang es. Und ganz am Ende, als er seinen Kindern »Lebewohl« sagte.

Es fiel ihm schwer, in seiner Familie zuhause zu sein. Geborgenheit fand dieser Mann oft genug in der Fremde. Die Welt war sein Zuhause, die Politik, die Partei, der Kampf um mehr Gerechtigkeit. Der „Übervater“ der SPD war im Familienkreis sehr oft ein unsichtbarer Vater.

Das war ihm bewusst und er litt daran. Wie kein anderer artikulierte er die Gefühle der Massen, er surfte wie ein Rockstar auf den Emotionen des Publikums, dann kam er zu sich selbst und fand Selbstgewissheit, Selbstwertgefühl. Ungleich schwerer fiel es ihm, privat die richtigen Worte und Gesten zu finden. Er war emotional einsilbig, nahezu stumm. Er schrieb viele Briefe an Rut, auch an die Kinder, weil ihm das Papier distanzierte Nähe erlaubte, weil er ohne das fordernde Gegenüber leichter begriff, was er selbst fühlte oder zu geben hatte.

Aber er bemühte sich, er nahm sich die kleine Zeit, wenn die große Zeit ihn ließ. Er las den Söhnen Märchen vor, warf an Silvester Böller, mit Lars ging er Angeln. Als er 1948 endgültig nach Deutschland zurückkehrt und seine erste Frau Carlota und ihre Tochter Ninja verlässt, schreibt er anrührende Briefe an das achtjährige Mädchen, um ihr nahe zu sein.

Ein Rabenvater ist Brandt für seine vier Kinder Ninja, Peter, Lars und Matthias sicher nicht gewesen, aber ein gehandicapter Vater. Und es war eine andere Zeit. Wie selbstverständlich flog der Regierende Bürgermeister 1961 in die USA, obwohl seiner Frau eine schwere Geburt bevorstand. Rut litt sehr, aber sie trug es.

Er zweifelte: Tauge ich zum Vater?

Woher hätte Willy Brandt den Familiensinn nehmen sollen? Aufgewachsen ist er im familiären Chaos: Der Vater ist unbekannt, uneheliche Geburt, die Mutter hat kaum Zeit, der Großvater, der gar nicht der leibliche ist, wird von ihm Papa genannt. Wohin man schaut: Familienfragmente. Geboren wurde Herbert Frahm am 18. Dezember 1913, doch er stirbt bereits am 11. März 1933, denn an diesem Tag legt er seinen alten Namen ab. Der junge Mann auf der Flucht vor den Nazis legt sich einen Tarn- und Kampfnamen zu: Willy Brandt.

Passt wie angegossen, der bleibt. Von nun an ist Willy Brandt ein Selbstgeborener und seine Taufpaten sind die Genossen. Oft genug hat Brandt später betont, wie fremd ihm dieser Herbert Frahm, der er einmal war, geworden sei. Hier hat jemand einen Teil von sich abgespalten, weil er seine Kindheit nicht zu Ende leben konnte. Für ihn war und blieb die Familie ein Wagnis. Tauge ich zum Ehemann, zum Vater?

Die meisten Männer seiner Generation konnten den eigenen Kindern nur mühevoll körperliche Zärtlichkeit und emotionale Zuwendung zeigen. Brandt sprach fließend Norwegisch, Englisch und Französisch, aber die intime familiäre Sprache sprach er nicht. Die Frauen an seiner Seite warteten häufig umsonst auf das lösende Wort.

Klarheit in Liebesdingen? Konstruktiver Streit? Rut Brandt scherzte einmal verzweifelt, sie werde eines Tages eine Tränengasbombe werfen, um ihrem Mann Gefühle abzuluchsen. Wo andere weinten, versteinerte er. Tränen füllten seine Augen, wenn die Geschichte sprach. Als die Alliierten in der Normandie landeten, als er 1970 im Sonderzug nach Erfurt fuhr, als 1989 die Mauer fiel. Da wagte er Gefühl.

In seinem letzten Erinnerungsbuch fehlt die Familie völlig. Warum? Undankbarkeit? Kälte? Kaum! Ein Mann wie Willy Brandt konnte sich nicht in die Familie retten, deshalb musste er in die Geschichte fliehen. Die, die ihm dahin nicht folgen wollten, musste das verletzen. Mit all seinen Selbstzweifeln und beschädigten Gefühlen suchte und fand er Bestimmung und Statur im staatsmännischen Selbstbild, das er im letzten Lebensbuch entwirft.

Die Historie nahm ihn bereitwillig auf, hier blieb er kein Flüchtling, hier fand er Geborgenheit und spendete sie anderen, die ihn nur aus der Ferne her kannten. Ein Familienmensch ist Brandt nicht gewesen, aber ohne Familie ist kein Mensch. Und als er in seinem Haus in Unkel starb, fanden sich Worte, Tränen und Gesten, um seinen Kindern „Lebewohl“ zu sagen.

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Torsten Körner

Dr. Torsten Körner ist Autor des Buchs „Die Familie Willy Brandt“. Es erscheint am 26. September im Fischer-Verlag.

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