Bei der Buchvorstellung in den Räumen der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin beschrieben die Autoren von "Willy Brandt in Erfurt" die aufwändigen Verhandlungen im Vorfeld des
deutsch-deutschen Aufeinandertreffens. Ursprünglich sei Ostberlin als Ort für das Treffen angedacht gewesen. In der DDR habe man schon begonnen, Zimmer im Kronprinzenpalais zu sanieren und
festtagstauglich zu machen. Als Brandt darauf bestand, im Anschluss an das Treffen auch West-Berlin zu besuchen, lehnte die DDR ab. Helsinki und Wien kamen als neutrale Orte für ein Treffen ins
Gespräch. Erst sieben Tage vor dem verabredeten Termin boten die Westdeutschen an, es dürfe auch jeder beliebige Ort in Ostdeutschland sein. Erfurt oder Magdeburg vielleicht. Man entschied sich
kurzfristig für Erfurt. Die Stadt war gar nicht darauf vorbereitet, so viele Journalisten dort unterzubringen, so dass etwa Friedrich Nowotny und Gerd Ruge sich ein Zimmer teilen mussten - im
nahe gelegenen Eisenach.
Reise in "ein halbwegs zivilisiertes Land"
Der Zug mit dem die westdeutsche Delegation um Brandt anreiste, bestand aus Regierungswagen, die einst schon Keitel und Mussolini genutzt hatten. Das sorgte in der DDR-Presse für Aufruhr,
wo man sich über den Nazi-Zug in Rage brachte. Regierungssprecher Conrad Ahlers sorgte für weitere Erhitzung der Gemüter, indem er die DDR ein "halbwegs zivilisiertes Land" nannte. Sein
Ausspruch, die Stimmung im Zug sei in etwa so gut gewesen wie die beim Einmarsch in Polen, gelangte glücklicherweise erst später an die Öffentlichkeit. Grund für die Freude im Regierungszug waren
die Reaktionen der DDR-Bürger entlang der Gleise. Es wurde gejubelt und gewunken.
Währenddessen hatte man in der DDR alles unternommen, um Erfurt herauszuputzen. Im Tagungshotel "Erfurter Hof" wurde neu tapeziert, die Lampen wurden ausgetauscht und das Gleisbett im
Erfurter Hauptbahnhof wurde ausgebessert. Im Bahnhof wurden Propagandaplakate aufgehängt. Obwohl ein Urlaubsverbot für die Erfurter erlassen war und Straßensperren auswärtige DDR-Bürger von der
Anreise abhalten sollten, strömten die Menschen in die Stadt. Absperrgitter wurden durchbrochen, der Platz vor dem Hotel gestürmt und Willy Brandt ans Fenster gerufen. Gemeinsam mit den Bildern
von Brandts Kniefall in Warschau hätten diese Bilder das kollektive Gedächtnis in Ost- und West am meisten geprägt, erklärten Schönfelder und Erices.
Ein Signal für die ganze Welt
Uneinig waren sich bei der Buchpräsentation die beiden Zeitzeugen Egon Bahr und Hans Voß. Voß, damals Teil der DDR-Delegation, erklärte, in Erfurt seien wichtige Verhandlungsprozesse
eingeleitet worden und die DDR habe ihre Gleichberechtigung demonstriert. Bahr, der zu dieser Zeit in Moskau mit den Sowjets verhandelte, sagt, das Treffen habe die Machtverhältnisse in Europa
nicht verändert. Die Bedeutung von Leipzig liege darin, dass die ganze Welt gesehen habe, "wenn man die Deutschen ließe, dann würden sie sich vereinen". Tatsächlich seien zu diesem Zeitpunkt
beide deutsche Staaten aber fest in ihre jeweiligen Bündnissysteme eingebunden gewesen. Die DDR habe genauso die Erlaubnis zu diesem Treffen in Moskau einholen müssen, wie Brandt bei
US-Außenminister Kissinger und den französischen Vertretern angefragt habe.
Jan Schönfelder/Rainer Erices: "Willy Brandt in Erfurt", Ch. Links Verlag, Berlin, 336 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-86153-568-3