Geschichte

Willy Brandt: „Er war zuerst ein Mensch“

von Lars Haferkamp · 7. Juni 2013

War Helmut Schmidt ängstlich und eifersüchtig auf Willy Brandt? Hat Herbert Wehner Brandt verraten? Und warum wollte Brandt, dass man ihm Günter Grass vom Leib hielt? Spannende Antworten auf diese Fragen und noch viel mehr gab es gestern Abend in Berlin.

„Willy Brandt hatte ein großes Herz für kleine Leute, aber er wollte sie um Gottes willen nicht um sich haben.“ Wibke Bruhns kennt die Widersprüche, die Willy Brandt in seiner Person vereinte. Als Journalistin hat sie Brandt viele Jahre aus der Nähe erlebt. „Er konnte mit großen Menschenmassen in der Westfalenhalle besser umgehen, als mit einem 12-köpfigen Ortsverein“, erinnert sich Bruhns. So sehr Brandt Menschen faszinierte und Emotionen auslösen konnte: „Compassionable war er nicht. Compassion hat ihm Klaus Harpprecht in die Reden geschrieben.“

„Aristokratische Distanz“ Brandts

In der rheinland-pfälzischen Landesvertretung trafen sich gestern Abend Weggefährten und Publizisten, um über Willy Brandt zu diskutieren. Einer von ihnen ist Egon Bahr. Kaum jemanden ließ Brandt so nah an sich heran. Denn Bahr wusste: „Man konnte ihm nur nahe kommen, wenn man ihm nicht zu nahe kommen wollte. Er bestimmte den Abstand.“

Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des Tagesspiegel, erinnert sich an die „aristokratische Distanz“, als er Brandt einmal „einsam und sinnierend durch den Reichstag“ gehen sah. Noch heute fasziniere die Fähigkeit Brandts, seine Politik zu erklären. „Fragen Sie mal die Kanzlerin, warum sie macht, was sie macht!“, scherzt Casdorff über das Unvermögen heutiger Politiker.

Was tat Wehner in Moskau?

Schnell geht es an diesem Abend nicht mehr nur um Brandt, sondern auch um seine Zeitgenossen: um Herbert Wehner, Helmut Schmidt und Günter Grass. Plötzlich steigt die Spannung. So als Wibke Bruhns Egon Bahr kritisiert: „Bahrs Buch geht zu zahm mit Wehner um.“ Nach all dem, was Wehner im Hotel Lux getan habe ­– „Wehner war ein Mörder“, sagt Bruhns ­– , sei es „unglaublich“, dass die SPD Wehner gestützt habe, als er Brandt von Moskau attackierte mit dem berühmten Satz, der Kanzler bade gerne lau. „Welcher Alt-Nazi wäre so hofiert worden wie Wehner, nur weil er abgeschworen hat?“, fragt Bruhns erregt in die Runde. Warum sei Wehner so hofiert worden? Auch von Journalisten. „Wo haben wir unseren Verstand gelassen damals?“, will Bruhns wissen.

Egon Bahr antwortet, ruhig, jedes Wort mit Bedacht wählend. Kurt Schumacher selbst habe Wehner attestiert, sich glaubhaft zum Demokraten gewandelt zu haben. Dem wagte in der SPD niemand zu widersprechen. Bahr betrachtet die Reaktion Brandts auf Wehners Moskauer Angriff im Rückblick als falsch. Er habe Brandt damals einen „falschen Rat“ gegeben, „was ich mir bis heute vorwerfe“. Sein damaliger Rat lautete: „Wenn du die Kraftprobe willst, wirst du sie gewinnen. Aber wir brauchen deine Kraft für Besseres.“ 

Zu Wehners Verhalten im Moskauer Exil sagt Bahr: „Brandt und ich waren sicher, dass Wehner in Moskau mehrfach Menschen ans Messer geliefert hat.“ Die Empörung Wibke Bruhns teilt er dennoch nicht. „Ich konnte Wehner aus dem Wunsch zu überleben, keinen Vorwurf machen.“ Es sei verständlich, dass Wehner kein Märtyrer werden wollte. 

Schmidts Kanzlerschaft von Brandts Gnaden

Und wie war es mit Brandt und dem anderen großen Sozialdemokaten, mit Helmut Schmidt?
„Wenn es Brandt darauf angelegt hätte, wäre Schmidt in 14 Tagen nicht mehr Kanzler gewesen“, beschreibt Bahr das Kräfteverhältnis. Es habe eine „ewige Eifersucht“ Schmidts auf Brandt gegeben, weil dieser geliebt, Schmidt aber nur respektiert wurde.

Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, bedauert sein „Pech der späten Geburt“ im Jahr 1967, weil er so nur noch den späten Brandt erleben konnte. Auf ihn wirkte Schmidt „autoritär“, wie ein „weiser alter Mann“. Brandt hingegen erscheine spannender, weil widersprüchlicher und werde auch als Mensch wahrgenommen.
„Schmidt hatte nicht sein 1974“: Rücktritt, Krankheit, Depression. „Er hatte nicht die notwendige Härte.“

„Brandt war nicht schwach“

Dem widerspricht Egon Bahr energisch: „Er war nicht schwach.“ Brandt habe sich stets sehr schnell erholt. Er habe ihn nur ein einziges Mal depressiv erlebt, im Sommer 1972, als er auf alle schimpfte und zurücktreten wollte. Egon Bahr konnte ihn zurückhalten mit dem humorvollen Hinweis: „Das geht nicht, der Bundespräsident ist nicht da, du kannst nicht zurücktreten.“

Egon Bahr macht die Unterschiede zwischen Brandt und Schmidt deutlich an der unterschiedlichen Art, eine Kabinettssitzung zu leiten. Brandt habe die Minister diskutieren lassen. Aus den verschiedenen Meinungen habe er einen Konsens gebildet. „Das war toll“, schwärmt Bahr noch heute. Schmidt dagegen habe nicht diskutiert, sondern seine Meinung dargestellt.

„Kein Monopol auf die Wahrheit“

Stephan-Andreas Castorff beschreibt einen weiteren Unterschied. Willy Brandt habe gesagt, er besitze „kein Monopol auf die Wahrheit“. Das sei ein sehr philosophischer Ansatz gewesen. Helmut Schmidt habe die Philosophen zwar gelesen, sei selbst aber weit entfernt davon gewesen, einer zu sein.

Für Egon Bahr unterscheiden sich die beiden SPD-Kanzler noch in einem anderen Punkt:
Brandt habe „Stolz ohne Überheblichkeit“ besessen, „ein Selbstbewusstsein, ohne es zu zeigen“. Schmidt dagegen fürchtete, seine Kanzlerschaft könne „eine Fußnote“ in der Geschichte werden und hatte Angst, vom Amt überfordert zu sein.

Der aufgeregte Günter Grass

Eine weitere Seite Brandts beschreibt Wibke Bruhns: „Er vermeidete Konflikte.“ Nachdem Günter Grass Brandts Wahlkämpfe unterstützte, habe Grass eine Gegenleistung erwartet. Er wollte „Berater“ des Kanzlers werden und „vor wichtigen Entscheidungen gefragt“ werden. Ein schwerer Fehler. „So was macht man mit Willy Brandt nicht“, so Bruhns.  Dieser hielt Grass von da an auf Distanz. Einmal bat er sogar seinen Büroleiter, „er möge ihm diesen aufgeregten Menschen vom Hals halten“.

Es gelingt der Runde, sich dem Mythos Brandt so weit zu nähern, dass der Mensch erkennbar und erlebbar wird. Wibke Bruhns bringt es am Ende des Abends auf den Punkt: „Wenn wir sagen: Brandt war ein Mythos – er war zuerst ein Mensch!“

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Lars Haferkamp
Lars Haferkamp

ist Chef vom Dienst und Textchef des vorwärts.

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