Geschichte

Wilhelm Keil – der „ungekrönte König“ der württembergischen SPD

Als „Versöhnler“ zwischen der SPD und bürgerlichen Kräften geht Wilhelm Keil in die Parteigeschichte ein. In der Weimarer Republik übernimmt er wichtige Ämter in Württemberg und im Reichstag. Den Machtkampf gegen Kurt Schumacher verliert er jedoch.
von Lothar Pollähne · 5. April 2023
Wilhelm Keil: Manchen gilt er als „Jahrhundert-Sozialdemokrat“, heute haben ihn viele vergessen.
Wilhelm Keil: Manchen gilt er als „Jahrhundert-Sozialdemokrat“, heute haben ihn viele vergessen.

Am 22. November 1920 bittet Kurt Schumacher seinen Vorgesetzten um die Entlassung aus dem Reichsarbeitsministerium, wo er in der Zentralstelle der Kriegsbeschädigtenfürsorge tätig ist. Schumacher will sich ganz seinen politischen Interessen widmen, und da trifft es sich gut, dass er zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Leute kennt: den Reichstagsabgeordneten Erich Roßmann und den ehemaligen Reichsfinanzminister Otto Landsberg. Beide sind befreundet mit dem Chefredakteur des württembergischen Parteiorgans „Schwäbische Tagwacht“, Wilhelm Keil, der auf der Suche nach einem politischen Redakteur ist, und legen ihm die Anstellung des jungen Dr. Schumacher ans Herz.

Wilhelm Keil ist beeindruckt von Schumachers Fähigkeiten und erinnert sich später: „Stark ins Gewicht fiel bei mir die Eigenschaft des über eine breitere und tiefere Allgemeinbildung verfügenden Akademikers.“ Am 1. Dezember tritt Kurt Schumacher seine Redakteursstelle in Stuttgart an. Damit beginnt die schwierige, aber immer hochspannende Partnerschaft zwischen Kurt Schumacher, einem Vertreter der jungen, nichtproletarischen SPD und Wilhelm Keil, einem Mann mit einer klassischen Arbeiterbiografie.

Von Kassel hinaus in die Welt

Geboren wird Wilhelm Keil am 24. Juli 1870 im nordhessischen Dorf Helsa in der Nähe von Kassel. Der Vater, ein gelernter Schneider, ist hauptberuflicher Kohlenfuhrwerker. Das Familienbudget ist knapp bemessen und so muss Wilhelm Keil schon als Schüler hinzuverdienen. Nach Abschluss der Volksschule erlernt Keil in Kassel das Drechslerhandwerk. Noch keine 18 Jahre alt erklärt der Geselle Wilhelm Keil seinem Vater, dass er nun in die Welt hinaus wolle, als ob Kassel nicht schon Welt genug wäre.

Verwandtschaftliche Beziehungen machen ihm den Auftakt seiner Wanderjahre leicht. Sein Bruder Georg und sein Onkel Wilhelm leben in Hannover. Am 5. März 1888 beginnt dort für Wilhelm Keil die Arbeit als Drechslergeselle in den „Universitäten des Lebens“. Sein erster Lehrer wird Carl Legien, der Vorsitzende der „Vereinigung Deutscher Drechsler“. Wilhelm Keil ist von dem westpreußischen Sozialdemokraten so beeindruckt, dass er spontan der Vereinigung beitritt.

Vertreter des SPD-Reformflügels

Über Hamburg und London führt Keils Wanderschaft 1889 nach Elberfeld, das die Stadt seines politischen Erwachens werden soll. Keil verfolgt mit Spannung den „Geheimbundprozess“ gegen August Bebel. Dessen Schrift „Die Frau und der Sozialismus“ beeindruckt Wilhelm Keil mehr als die sozialistischen Klassiker von Marx und Engels. Am Ende seiner Wanderschaft landet Wilhelm Keil schließlich 1890 in Mannheim, wo er seine politischen Lehrjahre beginnt. Er wird Mitglied im „Arbeiterwahlverein“, einer Tarnorganisation der SPD, macht die Bekanntschaft von Wilhelm Liebknecht und reist als Agitationsredner für den „Holzarbeiterverband“ durch Südwestdeutschland.

Nachdem er schon einige Jahre lang Artikel für Partei- und Gewerkschaftszeitungen verfasst hat, wird Wilhelm Keil 1896 als Redakteur bei der Schwäbischen Tagwacht in Stuttgart angestellt, dessen Leitung er 1902 übernimmt. 1900 wird er zum ersten Mal in den württembergischen Landtag gewählt. 1910 folgt die Wahl in den Reichstag für den Wahlkreis Württemberg 2. Als Vertreter des Reformflügels positioniert sich Wilhelm Keil in der Frage der Kriegskredite für „den Sieg der deutschen Waffen“.

Revolutionäre deutsche Sanftmut

1911 scheidet Keil aus der Redaktion der Tagwacht aus, wird aber im November 1914 vom württembergischen SPD-Landesvorstand wieder als Chefredakteur eingesetzt. Früher als im Reich beginnen mit der Entlassung der linken Tagblatt-Redakteure in Württemberg die Auseinandersetzungen zwischen Gemäßigten und Radikalen. Wilhelm Keil ist mittlerweile der „ungekrönte König“ der württembergischen SPD und befeuert mit Worten und Schriften die Spaltung der Partei.

Im November 1918 spricht Wilhelm Keil vor 100.000 Zuhörer*innen auf dem Schlossplatz in Stuttgart und verkündet die Schaffung einer „sozialen Republik“. Kurzfristig, so scheint es, hat sich der Etatist Keil zum Radikalen gewandelt, doch dem gewieften Strippenzieher ist ein funktionierender Staat wichtiger als ein sozialistisches Experiment. Keil setzt die Beteiligung Bürgerlicher an der Übergangsregierung durch. Zufrieden notiert er: „Das Leben nahm wieder seinen normalen Gang“, was der Schumacher-Biograf Peter Merseburger als „Gipfel revolutionärer deutscher Sanftmut“ bezeichnet.

Verlust des Reichstagsmandates

1919 wird der „Versöhnler“ Wilhelm Keil Präsident der Verfassunggebenden Landesversammlung für das Land Württemberg und übernimmt den Vorsitz im wichtigen Verfassungsausschuss. Das ihm angetragene Amt des Ministerpräsidenten lehnt er ab. „Ich sträubte mich innerlich dagegen, mit meinem bescheidenen Wissen den alten, geschulten Beamten als Chef vorgesetzt zu werden“, schreibt Keil in seinen „Erinnerungen“. Von 1921 bis 1923 fungiert Wilhelm Keil als „Arbeits- und Ernährungsminister“ in Württemberg.

In der SPD-Reichstagsfraktion, der er weiterhin angehört, macht sich Keil einen Namen als Finanzexperte und rühmt sich, dass kein Finanzgesetz verabschiedet worden sei, das nicht über seinen Schreibtisch gegangen sei. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln kämpft Wilhelm Keil für das Zusammengehen der Sozialdemokratie mit den bürgerlichen Kräften, auch wenn dies faule Kompromisse beinhalten sollte. So rechtfertigt Wilhelm Keil die Zustimmung zum Bau des Panzerkreuzers A. Dies und die Zustimmung zur Tolerierung der Regierung Brüning trägt ihm den Widerspruch Kurt Schumachers ein, der das gesamte sozialdemokratische Potenzial ausschöpfen und notfalls aus der Opposition heraus agieren will. In der württembergischen SPD entbrennt ein Machtkampf zwischen Keil und Schumacher, den der jüngere schließlich gewinnt. 1930 scheidet Wilhelm Keil aus der Redaktion der Tagwacht aus und 1932 verliert er den Kampf um die Reichstagskandidatur gegen Kurt Schumacher.

Harte Kritik von Kurt Schumacher

Nach der Machtübertragung an die Nazis 1933 wird das Verhältnis zwischen Wilhelm Keil und Kurt Schumacher zur Feindschaft. Keil hatte im württembergischen Landtag bei der Abstimmung über ein württembergisches Ermächtigungsgesetz für Enthaltung plädiert und sich damit gegen das Vorbild der Reichstagsfraktion gestellt. In seiner Erinnerung an die dramatischen Wochen der vollständigen Nazifizierung Deutschlands bezeichnet Kurt Schumacher 1945 Keils Verhalten als „unentschuldbar, schmählich und sinnlos“.

Mit seinem Versuch, Wilhelm Keil aus der Nachkriegspolitik herauszuhalten, scheitert Schumacher jedoch. 1946 wird Keil Präsident der „Vorläufigen Volksvertretung Württemberg-Baden“ und setzt sich für die Gründung des Südweststaates ein. 1947 beginnt Wilhelm Keils politische Schlussetappe: er wird für fünf Jahre Landtagspräsident. Am 4. April 1968 stirbt der Jahrhundert-Sozialdemokrat Wilhelm Keil in seiner Heimatstadt Ludwigsburg.

Autor*in
Avatar
Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare