Geschichte

Wilhelm Bracke – ein zu unrecht unbekannter Gründervater der SPD

Vor 180 Jahren wurde Wilhelm Bracke geboren, der erste Vorsitzende der SPD-Vorgängerpartei „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“. Während Bebel und Liebknecht vielen ein Begriff sind, wurde Bracke weitgehend vergessen. Das sollte sich ändern.
von Lothar Pollähne · 2. Juni 2022
Wilhelm Bracke: Er war einer der Gründerväter der SPD. Mit nur 38 Jahren starb er 1880.
Wilhelm Bracke: Er war einer der Gründerväter der SPD. Mit nur 38 Jahren starb er 1880.

Am Morgen des 2. Mai 1880 ist es ganz still in Braunschweig, obwohl nahezu 40.000 Menschen durch die Straßen der Löwenstadt ziehen. Sie sind gekommen, um einem Mann die letzte Ehre zu erweisen, der ohne Übertreibung mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht in einem Atemzug genannt werden kann: Wilhelm Bracke. Und so nimmt es auch nicht Wunder, dass Wilhelm Liebknecht an der Spitze des Zuges hinter dem Leichenwagen marschiert. Gerade weil das Mitführen von Fahnen und Bannern, das Skandieren von Parolen und das Absingen von Liedern polizeilich verboten ist, wird der Trauerzug zu Ehren Wilhelm Brackes in den frühen Jahren der Bismarck’schen Sozialistengesetze zu einer eindrucksvollen Demonstration der Stärke der aufstrebenden Sozialdemokratie. Braunschweig ist in jenen Jahren eines der Zentren der deutschen Sozialdemokratie, und dies ist vor allem dem unermüdlichen Engagement Wilhelm Brackes zu danken.

Wilhelm Bracke ist kein Arbeiterkind

Wie auch sein Freund Wilhelm Liebknecht ist Wilhelm Bracke kein „Kind der Arbeiterklasse“. Geboren wird er am 29. Mai 1842 als Sohn eines wohlhabenden Mühlenpächters und Getreidehändlers. Der Knabe besucht das „Martino-Katharineum“, Braunschweigs Traditionsgymnasium, und interessiert sich besonders für Geschichte und Naturwissenschaften. Nur widerwillig beugt er sich dem Wunsch des Vaters, sich auf die künftige Leitung des Handelsgeschäfts vorzubereiten. „Ich will Physik und Chemie studieren, um an dem Fortschritt der Menschheit Antheil zu nehmen. Ich will nicht Thaler auf Thaler häufen“, schreibt Wilhelm Bracke seinem Vater, mit dem er sich auf einen Kompromiss einigt. Er darf neben seiner Arbeit im Geschäft am „Collegium Carolinum“ in Braunschweig studieren.

Beeinflusst von einem nationalliberalen Lehrer, wird Bracke zum Verfechter der bürgerlich revolutionären Gedanken von Einheit und Freiheit und schließt sich dem „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ (ADAV) an. 1865 gründet Bracke den Braunschweiger Zweigverband des ADAV und wird schon nach wenigen Monaten Mitglied des Gesamtvorstands. Am 19. und 20. Mai 1867 findet die Generalversammlung des ADAV in Braunschweig statt, auf der Johann Baptist von Schweitzer zum Präsidenten gewählt wird. Der wird alsbald mit seinem diktatorischen Gehabe zum „Spaltpilz“ der Bewegung.

Folgenreiches Treffen mit August Bebel

Wilhelm Bracke bricht am 18. Juni 1869 mit dem ADAV und setzt sich mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Verbindung. Bereits am 22. Juni trifft sich Bracke mit Bebel in einem Wirtshaus in Magdeburg. Der erinnert sich an die denkwürdige Begegnung, an deren Ende ein Gründungsmanifest der deutschen Sozialdemokratie stehen wird: „Es war Mitternacht, als der prächtige Bracke sich über das in der Wirtsstube stehende Billard streckte, um auf demselben den Aufruf niederzuschreiben, für den alsdann Unterschriften für die Einberufung eines Kongresses gesammelt werden sollten.“ Der Kongress findet vom 7. bis zum 9. August 1869 in Eisenach statt und mündet in die Gründung der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SDAP). Wilhelm Bracke wird zu deren Sprecher gewählt, und Braunschweig wird — auch wegen der Kampfstärke der dortigen Sektion — zum ersten Sitz der neuen Partei.

Anfang Oktober 1969 reist Wilhelm Bracke ins benachbarte Hannover, wo er bei Louis Kugelmann Karl Marx kennenlernt. Dieser ist zunächst nicht sehr erbaut von dem Treffen, ändert aber im Verlaufe der Gespräche seine Meinung. Bracke wird zu einer der wichtigsten Kontaktpersonen des großen Theoretikers in Deutschland. Nach der Veröffentlichung eines Manifests gegen die Fortsetzung des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich wird der Braunschweiger Parteiausschuss am 9. September 1870 verhaftet und in die Festung Lötzen in Ostpreußen verschleppt.

Gründer des „Braunschweiger Volksfreund“

Nach der Haftentlassung gründet Wilhelm Bracke 1871 den wöchentlich erscheinenden „Braunschweiger Volksfreund“ und schreibt im ersten Editorial: „Der Umstand, dass die Interessen und die Anschauungsweise eines sehr großen Teils der Braunschweiger Bevölkerung in der vorhandenen Presse keine oder doch nur eine ungenügende Vertretung finden, hat uns veranlasst, ein politisches Wochenblatt mit obigem Namen zu gründen.“

1872 erringt Wilhelm Bracke als erster Sozialdemokrat einen Sitz im Rat der Stadt Braunschweig. Als die beiden Arbeiterparteien ADAV und SAPD 1875 einen gemeinsamen Programmentwurf für eine neue, einheitliche Partei vorlegen, rebelliert der „Marxist“ Wilhelm Bracke. In einem Brief an Friedrich Engels erklärt er: „Die Annahme dieses Programms ist für mich unmöglich.“ Mitglied der neuen „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ bleibt er dennoch.

Mitglied des Reichstages

1877 wird Wilhelm Bracke im Wahlkreis Glauchau-Meerrane in den Reichstag gewählt und im Jahr darauf als Abgeordneter bestätigt. Am 11. Oktober 1878 begründet Bracke im Reichstag die Haltung der Sozialdemokratie zum „Sozialistengesetz“ mit den Worten: „Meine Herren, ich will Ihnen sagen, wir pfeifen etwas auf das ganze Gesetz.“ Gesundheitlich angeschlagen gibt Wilhelm Bracke sein Reichstagsmandat im Jahr darauf zurück. Er stirbt am 27. April 1880: ein „Braunschweiger Volksfreund“, der im Gedächtnis der deutschen Sozialdemokratie einen festen Platz haben sollte.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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