Wie SPD und Gewerkschaften 1906 Frieden schlossen
bpk
Der Ansturm auf den Nibelungensaal im prachtvollen Mannheimer Rosengarten ist am Sonntagabend, den 23. September 1906, riesig. Für 19 Uhr ist die offizielle Eröffnung des Parteitages der SPD geplant,mehr als 6000 Besucher, darunter 70 Pressevertreter, haben sich in den Saal gedrängt. Tausende müssen draußen bleiben. Der Vortrag der 500 Sänger der vereinigten Mannheimer Arbeitergesangsvereine wird „stürmisch bejubelt“, schreibt die Badische Presse am folgenden Tag. Als der SPD-Vorsitzende August Bebel an das rote Rednerpult tritt, wird er mit „stürmischem, nicht enden wollenden, immer wieder einsetzenden Jubel“ begrüßt.
Bebel: SPD soll politische Richtlinien bestimmen
Doch der große Jubel täuscht darüber hinweg, dass das traditionelle Unterordnungsverhältnis zwischen Gewerkschaften und Partei seit der Jahrhundertwende gestört ist. Die Ansicht von Bebel, dass die Partei die Richtlinien für die politische Arbeit der Gewerkschaften vorgibt, wird nicht mehr überall geteilt.
Die Gewerkschaften haben seit 1895 enormen Zulauf und große soziale Erfolge erzielt. Ihr Selbstbewusstsein ist groß. Sie halten nichts von Umsturz und Revolution, sie wollen geordnete Verhältnisse und „eine ruhige Entwicklung“, so Carl Legien, Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands.
SPD will keinen Bruch mit den Gewerkschaften
August Bebel und die SPD-Führung erkennen die sozialen Erfolge und die stärkere Rolle der Gewerkschaften vorsichtig an, doch sie betonen, dass die Partei die Führungsrolle im politischen Kampf um die Befreiung der Arbeiterschaft habe. Ein Bruch mit den Gewerkschaften kommt für die SPD nicht in Frage, nicht nur, weil sie auf die enorme Wählerschaft angewiesen ist. Umgekehrt können die Gewerkschaften nicht auf einen starken parlamentarischen Arm der Arbeiterschaft verzichten. Letztlich sind beide aufeinander angewiesen.
Nach der festlichen Eröffnung des Parteitages hält am folgenden Tag Ernüchterung Einzug in die Versammlung. Die Delegierten haben sich diesmal im „Apollo“-Theatersaal versammelt. Der erste Tagesordnungspunkt bietet bereits Sprengstoff, es geht um den „politischen Massenstreik“.
Streik für das Allgemeine Wahlrecht?
Anlass ist die Frage, wie das Allgemeine Wahlrecht in Preußen, wo noch das Dreiklassenwahlrecht gilt, durchgesetzt werden kann. Von den Gewerkschaften wird ein Massenstreik abgelehnt. Sie fürchten Repressionen des Staates und um ihre mühsam in täglicher Kleinarbeit aufgebaute Organisation. Sie setzen auf den weiteren stetigen Aufbau, um soziale Verbesserungen durchzusetzen. Die SPD dagegen sieht den Massenstreik als wirksames Kampfmittel in wichtigen Konflikten. Er soll jedoch nicht als revolutionäres Kampfmittel eingesetzt werden.
Noch kurz vor dem Parteitag fährt die sozialdemokratische Presse scharfe Angriffe gegen die Haltung der Gewerkschaftsführer. Das ist die Ausgangslage an diesem Morgen. Erst spricht Bebel, dann Legien, die Debatte wird erbittert geführt, ein „Fußfall vor der Generalkommission“ von der SPD strikt abgelehnt.
Bebel und Legien finden Kompromiss
Die Frage wird an eine Kommission unter Leitung von Bebel und Legien verwiesen, die sich spät in der Nacht auf eine Resolution einigt. Darin wird festgeschrieben, dass Gewerkschaften und Partei grundsätzlich gleichberechtigt sind. Gleichzeitig wird vereinbart, dass man sich im Falle eines bevorstehenden Generalstreiks gegenseitig konsultieren werde. Am 28. September 1906 wird das „Mannheimer Abkommen“ mit 323 zu 62 Stimmen vom Parteitag angenommen. Die Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist damit festgeschrieben.
Diese Niederlage der SPD wird von der Opposition innerhalb der Partei scharf kritisiert. Denn damit fehlt ein Druckmittel zur Durchsetzung von politischen Zielen wie das des allgemeinen Wahlrechtes. So bleibt es in Preußen bis zum Ende des Kaiserreichs 1918 beim Dreiklassenwahlrecht.