Wie Martha Fuchs (SPD) erste Ministerin in Deutschland wurde
Mit Datum vom 10. Januar 1966 erhält der Oberbürgermeister von Braunschweig, Bernhard Ließ, einen außergewöhnlichen Brief. Geschrieben hat ihn die seinerzeit wohl bekannteste Braunschweigerin, Viktoria Luise von Braunschweig und Lüneburg, um ihrer Anteilnahme am Tod einer anderen bekannten Braunschweigerin Ausdruck zu verleihen: Martha Fuchs, der Vorgängerin von Bernhard Ließ. In „stiller Mittrauer“ schreibt Viktoria Luise: „Stets hat sie sich bemüht, für alle da zu sein, und ich weiß, wie wenig sie dabei an ihre eigene Gesundheit gedacht hat. So hat auch mich der plötzliche Tod Ihrer Alt-Oberbürgermeisterin tief getroffen, und ich möchte Ihnen allen zu dem großen und schmerzlichen Verlust meine aufrichtige Anteilnahme aussprechen.“
Arbeitsreiche Kindheit und „Ersatzmutter“
Der Brief ist insofern erstaunlich, als Martha Fuchs als prominente Sozialdemokratin für den Abriss des Braunschweiger Schlosses verantwortlich gemacht worden war, in dem Viktoria Luise bis zum 8. November 1918 als Herzogin residiert hatte. Die Debatte um den Abriss der Schlossruine war bereits neun Jahre lang unerbittlich geführt worden, als Martha Fuchs 1959 zur Oberbürgermeisterin der Löwenstadt gewählt wurde, aber die Abrissentscheidung fiel in ihre Amtszeit. „Den Kritikern an dieser Entscheidung gelang es, à la longue das positive Bild, das viele Zeitgenossen von Martha Fuchs hatten, so zu verfinstern, dass sie heute im öffentlichen Diskurs der Stadt, wenn überhaupt, als Negativfigur auftaucht“, schreibt ihre Biografin Regina Blume. Das wird der Lebensleistung dieser großen Sozialdemokratin der frühen Bundesrepublik nicht gerecht.
Geboren wird Martha Marie Büttner am 1. Oktober 1892 in Grubschütz bei Bautzen. 1898 erwirbt ihr Vater Karl Johann Büttner, ein Sozialdemokrat, ein Wohnhaus mit Schankwirtschaft in Bautzen. Dort treffen sich SPD und Gewerkschaften zu Versammlungen. Kurz nach der Geburt ihres fünften Kindes stirbt Marthas Mutter Johanne, und die älteste Tochter wird mit der Härte des Arbeitslebens konfrontiert. Vormittags besucht die wissbegierige Martha die Schule, nachmittags ist sie „Ersatzmutter“ für ihre Geschwister, und abends bedient sie in der väterlichen Schankwirtschaft. Ihren Wunsch, Lehrerin zu werden, kann sie gegenüber dem Vater nicht durchsetzen. Immerhin darf Martha eine Handelsschule besuchen, nach deren Abschluss sie als Kontoristin „in Stellung“ geht.
Martha Fuchs: Engagiert und vernetzt
1919 heiratet Martha in Magdeburg den Journalisten Georg Fuchs, der als Redakteur bei der „Volksstimme“ arbeitet. Fuchs ist verwitwet und muss drei kleine Kinder großziehen. Dabei ist ihm Martha eine große Stütze, zumal sie über reichlich Erfahrung verfügt, Kinder zu versorgen, die nicht ihre eigenen sind. 1922 zieht die fünfköpfige Familie nach Braunschweig, weil Georg Fuchs zunächst als politischer Redakteur des SPD-Organs „Volksfreund“ und später als dessen Chefredakteur tätig wird. 1923 tritt Martha Fuchs der SPD bei und mischt sich ein. Schon 1925 wird sie in den Rat der Stadt Braunschweig gewählt und kümmert sich, ihren Interessen entsprechend um Bildungs- und Kulturpolitik. Nebenbei schreibt sie für die Wochenendbeilage des „Volksfreundes“ über soziale Themen.
Martha und Georg Fuchs sind in der Braunschweiger SPD gut vernetzt. Zu ihrem Freundeskreis gehören Heinrich Jasper, der Ministerpräsident des Landes Braunschweig, und der Reichstagsabgeordnete Otto Grotewohl, der dem SPD-Bezirk Braunschweig vorsteht. Als stellvertretende Bezirksvorsitzende verfügt Martha Fuchs über so viel politisches Gewicht, dass sie 1927 als Kandidatin für einen Sitz im Braunschweigischen Landtag antreten kann. Sie wird gewählt und arbeitet, wie schon im Rat der Stadt Braunschweig, in den Bereichen Bildungs- und Kulturpolitik.
Von den Nationalsozialisten entlassen
Anfang 1930 stirbt Georg Fuchs an einer Krebserkrankung, und Martha ist mit dessen drei Kindern auf sich gestellt. Otto Grotewohl wird zum Vormund der Kinder bestellt. Als Gewerbeaufseherin des Landes Braunschweig hat Martha Fuchs keine Probleme, die Familie zu versorgen. Allerdings wird sie nicht verbeamtet, da die Nazis seit 1930 maßgeblichen Einfluss in der Landesregierung haben. In den auslaufenden Jahren der Weimarer Republik kämpft Martha Fuchs vehement gegen die zunehmende Brutalisierung der politischen Auseinandersetzungen.
Nach der Machtübertragung entlassen die Nazis die entschiedene Republikanerin Martha Fuchs und streichen obendrein ihre Witwenrente. Nach einem erfolglosen Versuch, als Staubsauger-Vertreterin zu arbeiten, verkauft sie ab 1934 mit ihrer Tochter Nora Küchenherde und hält Kochkurse ab. Das sichert den Lebensunterhalt, zumal auch immer Nahrungsmittel übrig bleiben.
Weggesperrt im KZ Ravensbrück
Im Hinterzimmer ihres Ladens treffen sich Angehörige von KZ-Häftlingen. Immer wieder wird Martha Fuchs kurzzeitig inhaftiert. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 verhaftet die Gestapo im Rahmen der „Aktion Gewitter“ auch Martha Fuchs. Bis April 1945 ist sie im KZ Ravensbrück weggesperrt. Während eines Todesmarsches gen Westen kann sie mit zwei jüdischen Freundinnen fliehen. Zuflucht findet sie zunächst bei Otto Grotewohl in Berlin, bevor sie im August 1945 nach Braunschweig zurückkehren kann.
Nach einem sechswöchigen Kuraufenthalt in der Schweiz stürzt sich Martha Fuchs wieder in die politische Arbeit. Die britische Militär-Verwaltung ernennt sie zur Stadtverordneten und zur Abgeordneten im Braunschweiger Landtag. Im Mai 1946 übernimmt Martha Fuchs das Amt der Ministerin für Wissenschaft und Volksbildung. Sie ist damit die erste Ministerin in Deutschland. Als das Land Braunschweig im November 1946 im neuen Land Niedersachsen aufgeht, wird Martha Fuchs Mitglied des neuen Landtags und Staatskommissarin für das Flüchtlingswesen. 1949 übernimmt sie — als erste Frau überhaupt — den Vorsitz eines SPD-Bezirks.
Oberbürgermeisterin und Ehrenbürgerin
Krankheitsbedingt muss Martha Fuchs immer wieder Pausen einlegen und sich mehrfach in Kur begeben. 1952 wird sie wieder in den Rat der Stadt Braunschweig gewählt. Obwohl sie sich innerlich bereits auf den Ruhestand einstellt, muss sie 1959 ihr letztes großes Amt übernehmen. Der Rat der Löwenstadt wählt sie zur Oberbürgermeisterin. Ihre Aufgaben sind immens. Es fehlt an Wohnungen, Schulen, Kindergärten und Altenheimen. Physisch und psychisch angeschlagen, arbeitet Martha Fuchs diszipliniert bis zum Ende ihrer Amtszeit am 21. Oktober 1964. Am 8. Januar 1966 stirbt Braunschweigs Ehrenbürgerin und erhält ein Ehrengrab auf dem Braunschweiger Stadtfriedhof.