Wie Heide Simonis zur ersten Ministerpräsidentin Deutschlands wurde
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Im Kieler Landeshaus sind am 19. Mai 1993 alle 88 Abgeordneten versammelt. Es soll über die Nachfolge von Ministerpräsident Björn Engholm entschieden werden. Landtagspräsidentin Ute Erdsiek-Rave (SPD) gibt um 15.31 Uhr das Wahlergebnis bekannt. Die SPD-Kandidatin erhält 46 von 88 abgegebenen Stimmen. „Damit ist im ersten Wahlgang die Abgeordnete Heide Simonis zur Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein gewählt“, verkündet Erdsiek-Rave unter dem anhaltenden Applaus der SPD-Landtagsfraktion.
Sie scheut keinen Konflikt
Es ist ein Meilenstein für die Emanzipation. Denn Heide Simonis ist die erste Frau, die an der Spitze einer deutschen Landesregierung steht. Erdsiek-Rave wünscht der Genossin „Mut und Glück und weibliche Stärke“. Das kann diese brauchen, denn damals gilt allzu oft: Nur wenn Männer aus der Kurve fliegen, haben Frauen eine Chance. „Doch im Herren-Club der Ministerpräsidenten wurde ich schnell akzeptiert und für voll genommen“, sagt Simonis später in einem Interview.
Bereits am Anfang ihrer politischen Karriere zeigt Heide Simonis den männlichen Kollegen, dass sie kompetent ist und keinem Streit aus dem Weg geht, dabei aber auch kommunikativ und konsensfähig bleibt. Ein Autor der „Zeit“ schreibt damals: „Anders als der zögerliche, bedächtige Amtsinhaber (Björn Engholm, die Red.) ist Heide Simonis eher aggressiv; jedenfalls scheut sie keinen Konflikt.“ Schleswig-Holsteins damalige Frauenministerin Gisela Böhrk umschreibt das so: „Heide Simonis kann eben das, was Männer können, und was Frauen können, kann sie auch.“
Frontfrau der Emanzipation
Immer wieder ist Heide Simonis, die 1969 in die SPD eintritt, eine Frontfrau der Emanzipation – sieht sich aber nicht als Feministin. Sie glaubt an Fachkompetenz und lehnt sogenannte Quotenfrauen ab. „Frau sein ist kein Handicap“, betont sie in einem Interview. Ohne Scheu verfolgt sie ihren Weg.
Von 1971 bis 1976 ist Simonis Ratsherrin in Kiel, dann 1976 jüngste sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete und 1977 Fraktionssprecherin der SPD. Die studierte Diplomvolkswirtin wird die erste Frau im Haushaltsausschuss des Bundestages, einer klassischen Männerdomäne, wo sie elf Jahre die SPD vertritt. Björn Engholm holt sie 1988 als erste Finanzministerin nach Kiel, um die von der CDU geleerte Landeskasse zu sanieren – was sie knallhart in die Tat umsetzt. Mit ihren Fähigkeiten setzt sie sich auch im Kreis ihrer Amtskollegen im Bund durch. Sie übernimmt im August 1990 als Finanzministerin den Vorsitz in der „Tarifgemeinschaft deutscher Länder“ und führt die schwierigen Tarifverhandlungen mit der ÖTV.
Ihr Beispiel macht Schule
1993 wird sie stellvertretende Ministerpräsidentin und kurz darauf Regierungschefin. Erst 2009 schafft es eine weitere Frau an die Spitze eines Bundeslandes. Heute führen vier Sozialdemokratinnen in vier Bundesländern die Regierung: Malu Dreyer, Manuela Schwesig, Franziska Giffey und Anke Rehlinger. Das Beispiel von Heide Simonis hat offenbar Frauen ermutigt, in die Politik zu gehen und sie weiblicher zu machen. Doch zurück nach Kiel. Heide Simonis führt die Politik von Björn Engholm weiter und macht aus dem Agrarland Schleswig-Holstein ein modernes Bundesland mit effizienter Verwaltung. Sie fördert Forschung und Wissenschaft, errichtet weitere Hochschulen und holt Zukunftsindustrien ins Land.
Zunächst regiert sie in Schleswig-Holstein mit absoluter Mehrheit, ab 1996 mit einer rot-grünen Koalition. Im Jahr 2000, in ihrem dritten Kabinett, sorgt Simonis dafür, dass zum ersten Mal in Deutschland Frauen in einer Regierungsmannschaft in der Mehrheit sind. Wieder ein Meilenstein der Gleichberechtigung. Fünf Jahre später wird sie im Landtag ganz unerwartet nicht wiedergewählt. Kurz darauf scheidet sie aus der aktiven Politik aus und wird von 2005 bis 2008 deutsche UNICEF-Vorsitzende.