Geschichte

Wie es zur Wiedergründung der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg kam

Auf dem ersten Parteitag nach Kriegsende gründen 258 Delegierte am 9. Mai 1946 die SPD in den Westzonen neu. Der Weg dorthin war voller Kontroversen. Im Mittelpunkt stand die Frage des Umgangs mit der KPD.
von Klaus Wettig · 9. Mai 2021
Kurt Schumacher auf dem SPD-Parteitag am 9. Mai 1946 in Hannover mit dem ehemaligen Oberpräsidenten von Hannover, Gustav Noske
Kurt Schumacher auf dem SPD-Parteitag am 9. Mai 1946 in Hannover mit dem ehemaligen Oberpräsidenten von Hannover, Gustav Noske

Im Rückblick – 75 Jahre danach – muss der erste SPD-Parteitag nach dem Ende der NS-Diktatur als Wunder bezeichnet werden – politisch und organisatorisch. Die SPD war nach der Annahme des Ermächtigungsgesetzes am 23. März 1933 verfolgt, zerschlagen, schließlich verboten worden, und die Nazis hatten ihr Vermögen enteignet.

Während Reste der Partei im Untergrund den Zusammenhalt bewahrten, auch Widerstand organisierten, versuchte der ins Ausland geschickte Exil-Vorstand als SOPADE den Kontakt zu halten. Über Grenzsekretariate wurde Aufklärungsschriften ins Reich geschleust, mit den Deutschlandberichten wurde die Welt über das terroristische Nazi-Regime unterrichtet. Diese Aktionen verloren jedoch an Kraft, nachdem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) zunehmend SPD-Gruppen ausschaltete. Als die SOPADE 1938 die Tschechoslowakei verlassen musste, gab es aus Frankreich nur noch eine kurze Phase politischer Aktionen in das Reich. 1940 beendete die Flucht in die USA und nach Großbritannien die letzten Aktionen.

Kein Platz für Parteigründungen

In den Jahren bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte sich der Kontakt zwischen der SOPADE und den SPD-Gruppen im Reich vermindert. Die Autorität des Exilvorstandes nahm von Jahr zu Jahr ab. Im Londoner Exil gelang es jedoch, zerstrittene Gruppen in der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien zusammenzuführen. Streit der Vergangenheit konnte ausgeglichen und Gemeinsamkeiten für den erwarteten Wiederaufbau nach Kriegende entwickelt werden. Freilich ohne Beteiligung der in Großbritannien lebenden Kommunisten. Das Herausfinden der Gemeinsamkeiten und die Abgrenzung zu den stalinistisch orientierten Kommunisten sollten beim Wiederaufbau der SPD an Bedeutung gewinnen.

Obwohl die Sammlung der überlebenden Sozialdemokraten zur Wiedergründung ihrer Partei unmittelbar nach der Befreiung durch die Alliierten begann, gab es im Konzept der westlichen Militärregierungen zunächst keinen Platz für demokratische Parteien. Auf unbelastete Politiker griffen sie beim Umbau der NS-Verwaltungen zwar zurück, doch der Parteiaufbau wurde blockiert. Nur in der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) konnte sich die SPD schnell bilden.

Die SPD beginnt aus dem Nichts

Nicht nur die Verzögerungspolitik der Militärregierungen stellte Hürden auf: Nach 12 Jahren Verbot in der Diktatur begann die SPD aus dem Nichts. Viele ihrer Parteihäuser hatte der Bombenkrieg zerstört: in Berlin, Hamburg, München, Köln, Leipzig, Frankfurt, Stuttgart, Würzburg usw. Immerhin stand in Hannover nach einigen Monaten ein teilzerstörtes Parteihaus zur Verfügung, das SPD-Handwerker wieder benutzbar machten. Mancherorts konnten Büros genutzt werden, aus denen die NS-Organisationen verschwunden waren: Was ließ sich dort nutzen? Selbst wenn Büromöbel vorhanden waren, fehlte es an einfacher Bürotechnik: Schreibmaschinen, Abzugsapparate und Telefone waren verschwunden, erst ab Herbst 1945 funktionierte das Telefonsystem. Doch woher sollte ein Telefon-Apparat kommen?

PKWs gab es ebenfalls nicht. Erst 1947 werden für die ersten demokratischen Landtagswahlen von den Militärregierungen PKWs bewilligt. Benzin war weiterhin rationiert. Das Fahrrad war das wichtigste Verkehrsmittel, selbst in großen Unterbezirken. Schwerwiegend war der Papiermangel. Jedes Blatt musste von der Militärbehörde bewilligt; jede Einladung, jedes Flugblatt musste genehmigt werden.

1945 und 1946 begrenzten Ausgangssperren – in der Regel von 19 bis 7 Uhr – die Chancen für Zusammenkünfte. Ab Herbst 1945 gab es jedoch Sondergenehmigungen, doch es fehlte an Versammlungsräumen, unzerstörte unterlagen häufig einer Sondernutzung durch Vertriebene, Ausgebombte und Displaced Persons.

Erster Erfolg in Wennigsen

Da im Sommer 1945 Schritt für Schritt die Briefpost funktionierte, gelang es dem in Hannover aufgebauten Büro Schumacher seinen Anspruch für den Wiederaufbau der SPD anzumelden. Zunächst für die Britische Besatzungszone, schließlich auch für die Amerikanische und die Französische Besatzungszone, obwohl die Französische Militärregierung lange an ihrer Blockade des Parteiaufbaus festhielt.

Ein erster Erfolg war das Treffen in Wennigsen bei Hannover im Oktober 1945. Die Britische Militärregierung hatte das Treffen für ihre Besatzungszone genehmigt. SPD-Vertreter aus der Amerikanischen Besatzungszone durften nicht an den Beratungen teilnehmen. Mit ihnen verhandelte Kurt Schumacher separat, ebenso mit Otto Grotewohl, der für den von Berlin aus für die SBZ arbeitenden Zentralausschuss den Anspruch für Gesamtdeutschland zu handeln erhob. Die Französische Besatzungszone war offiziell nicht vertreten. Mehr symbolische Bedeutung hatte die Anwesenheit von zwei Vertretern der SOPADE aus London, denen die Militärregierung die Anreise erlaubt hatte. Mit den Londoner Vertretern – Erich Ollenhauer und Fritz Heine – wurde eine Absprache erreicht, dass das Mandat der SOPADE nicht angezweifelt wird, der Wiederaufbau jedoch unabhängig von der SOPADE erfolgen solle.

Schumachers Gespräche mit Grotewohl am Rande der Wennigser Konferenz, die später Fortsetzungen fanden, führten nicht zur Klärung offener Fragen: Eine „Reichskonferenz“ für die vier Besatzungszonen schien unerreichbar, da es an der Zustimmung der Besatzungsmächte fehlte. Auch in der Frage einer möglichen Parteieinheit mit den Kommunisten vertieften sich die Differenzen, da Schumacher unüberwindbare Hindernisse sah. Das Verhältnis der KPD zur Demokratie sowie ihre Abhängigkeit von der stalinistischen Politik bestärkten die SPD der Westzonen anwachsend in ihren Vorbehalten. Als Anfang 1946 immer deutlicher wurden, dass sich der Zentralausschuss in Berlin dem Druck der Sowjetischen Militärregierung unterwerfen würde, vollzog sich die Trennung von West- und Ost-SPD.

Urabstimmung in West-Berlin

Im Januar und Februar 1946 verschärften sich die Differenzen zwischen dem Büro Schumacher in Hannover und dem Zentralausschuss in Berlin, sodass eine gemeinsame SPD immer unwahrscheinlicher wurde. Otto Grotewohl führte die SPD der SBZ in die Fusion mit der KPD, seine Gegner gerieten unter Druck der Sowjetischen Militärregierung und anwachsend fliehen SPD-Funktionäre in die Westzonen. Der Ruf nach Abstimmungen wird systematisch unterdrückt. Nur in den Westsektoren Berlins kann eine Urabstimmung erreicht werden. Am 31. März sprechen sich 19.529 Mitglieder (82,2 Prozent) gegen den sofortigen Zusammenschluss aus, nur 2.937 (12,3 Prozent) stimmen dafür.

Für den Zentralausschuss ist damit der Weg zur Fusion frei. Am 19./20. April findet ein sogenannter „40. Parteitag“ der SPD statt, der die Fusion zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) beschließt, die auf einem Vereinigungsparteitag am 20./21. April vollzogen wird. Von den Absprachen und Zusagen wird später nichts gehalten. Schon bald werden die Sozialdemokraten aus Funktionen verdrängt, mit Scheinprozessen überzogen. Die nächsten Jahre sind von der Flucht der SPD-Funktionäre aus der SBZ/DDR geprägt. Als 1952 in der SED der Kampf gegen den „Sozialdemokratismus“ zur Parteilinie wird, verschwinden die letzten Sozialdemokraten aus Funktionen. Sozialdemokratisches Denken wird ausgelöscht.

258 Delegierte gründen die SPD neu

Die Entwicklung der SPD in der SBZ verstärkte die Bemühungen des „Büro Schumacher“ zur Zusammenarbeit der SPD der Westzonen. Nachdem die Militärregierungen die ersten Zusammenschlüsse auf Länderebene genehmigt hatten, konnten die Vorbereitungen für einen Parteitag der Westzonen-SPD beginnen, für den schließlich die Genehmigung erteilt wurde.

Die SPD hatte Anfang 1946 rund 600.000 Mitglieder, die in den historischen Parteigliederungen Delegierte für den angekündigten Parteitag wählten. Vieles musste provisorisch geschehen, nicht überall können demokratisch gewählte regionale Parteitag zusammentreten, doch an der Legitimität der Parteitagsmandate gab es keinen Zweifel.

258 Delegierte versammeln sich von 9. bis 11. Mai in Hannover, um die SPD in den drei Westzonen wieder zu gründen. Für den 1. Nachkriegsparteitag lag die Entscheidung für Hannover nahe. Dort konnte das „Büro Schumacher“ die zahlreichen Organisationsprobleme mit breiter Unterstützung aus der wiederentstandenen SPD am besten lösen. Wie viele in Frage kommende Parteitagsorte war Hannover schwer kriegszerstört, doch die lokale Partei war engagiert, sodass in der bombengeschädigten Hanomag eine Tagungshalle hergerichtet werden konnte. Obwohl in Hannover kein Hotel verfügbar war, gelang die private Unterbringung der Delegierten, einschließlich der privaten Versorgung, denn die Lebensmittelkarten aus den anderen Besatzungszonen galten in Hannover nicht. Immerhin funktionierte die Straßenbahn, sodass der Parteitagsort in Hannover-Linden erreicht werden konnte.

Die „Jungsozialisten“ werden gegründet

Zwei große Referate bestimmten den Parteitag. Kurt Schumacher sprach über die Aufgaben und Ziele der Sozialdemokratie und Viktor Agartz über Sozialistische Wirtschaftspolitik.

Viele tagesaktuelle Fragen behandelte Kurt Schumacher: die völlig unzureichende Ernährung, die fortgesetzten Demontagen, das Schicksal der Kriegsgefangenen, die zögernde Entnazifizierung, die drohende Zerstückelung Deutschlands angesichts der unklaren Politik der Alliierten. Schumacher verzichtete auf eine Festlegung in der grundsätzlichen Orientierung der SPD. Er bekannte sich zum Marxismus als Methode, öffnete jedoch die neue SPD für andere theoretische Begründungen, die er ein Jahr später auf dem Nürnberger Parteitag präzisierte.

Nicht unwichtig waren die Organisationsbeschlüsse: Die SPD benötigte ein neues Organisationsstatut, das sich in der Struktur am historischen Vorbild orientierte, doch sollte es in Zukunft nur einen Vorsitzenden geben. Daneben gab es zwei Stellvertreter, die 1947 schon auf einen Stellvertreter reduziert wurden. Erich Ollenhauer, der Vertreter des historischen Apparates, wurde in dieses Amt gewählt. Auffällig ist der Beschluss zur Gründung der „Jungsozialisten“, mit dem die Partei von ihrer restriktiven Praxis der Weimarer Republik gegenüber einer selbstständigen Jugendorganisation abweicht.

Bei der Wahl zum Parteivorstand zeigt sich der Kontinuitätsbruch, den die Nazi-Zeit bewirkt hatte, denn aus dem 1933 auf der Reichskonferenz gewählten Vorstand zieht nur Erich Ollenhauer in den neuen Vorstand ein. Sechs Vorstandsmitglieder sind verstorben – darunter die beiden Vorsitzenden Otto Wels und Hans Vogel – oder von den Nazis ermordet worden. Neun Vorstandsmitglieder leben in der Emigration und erhalten kein Visum für Deutschland. Neben Erich Ollenhauer sind nur vier Vorstandsmitglieder anwesend, die aus Altersgründen für den Neuanfang nicht mehr kandidieren. Auch beim gewählten Vorstand wird die Situation des Übergangs deutlich, die mit starken Veränderungen auf den folgenden Parteitagen die SPD-Führung für das erste Jahrzehnt der Bundesrepublik hervorbringt.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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