Geschichte

Wie die SPD im Ruhrgebiet von mehr Erinnerungskultur profitieren würde

Lange galt das Ruhrgebiet als „Herzkammer“ der Sozialdemokratie. Doch seit einigen Jahren hat die SPD in Nordrhein-Westfalen schwer zu kämpfen. Eine Rückbesinnung auf die Geschichte der Region könnte ihr beim Wiederaufstieg helfen.
von Stefan Berger · 16. November 2023
Führung auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen: Will man die SPD im Ruhrgebiet wieder stärken, führt zumindest ein Weg über die Politisierung der Erinnerungslandschaften der Region.
Führung auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen: Will man die SPD im Ruhrgebiet wieder stärken, führt zumindest ein Weg über die Politisierung der Erinnerungslandschaften der Region.

Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr fuhr die SPD eines der historisch schlechtesten Ergebnisse ihrer Geschichte ein: Nur noch 26,7 Prozent der Wähler*innen gaben der SPD ihre Stimme – ein Minus von 4,6 Punkten im Vergleich zur Landtagswahl 2017. Noch 1985 erzielte die SPD ihr historisch bestes Wahlergebnis in NRW – mit 52,1 Prozent der Stimmen holte sie die absolute Mehrheit. Zwischen 1962 und 2000 lagen die Wahlergebnisse immer über 42 Prozent.

Im Ruhrgebiet stellte die SPD von den 1960er bis in die 1990er Jahre nahezu alle Oberbürgermeister*innen der Städte in der Region, von denen manche, wie Dortmund und Gelsenkirchen, sich den Ruf von Herzkammern der SPD in NRW erwarben. Doch auch hier bröckelte die Vormachtstellung nach 2000 erheblich und wichtige Ruhrgebietsstädte wie Essen und Duisburg stellten und stellen mittlerweile CDU-Oberbürgermeister. Es kann also nicht verwundern, dass gegenwärtig Krisenstimmung herrscht in der SPD des Ruhrgebiets und in NRW insgesamt. Die 1.000-Dollar-Frage ist die nach der Wiedergewinnung der einstigen Hochburg der Sozialdemokratie.

Das Ruhrgebiet – sozialdemokratische Diaspora

Dabei ist aber zunächst mal festzuhalten, dass das Ruhrgebiet historisch gesehen erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Hochburg der Sozialdemokratie werden konnte. Vor 1945 kann man das Ruhrgebiet eher als sozialdemokratische Diaspora bezeichnen. Schon im Kaiserreich war die katholische Zentrumspartei in vielen Städten des Ruhrgebiets stärker als die Sozialdemokratie. Erst mit dem anbrechenden 20. Jahrhundert gelang es der Sozialdemokratie, einige der Reichstagsmandate in den Wahlkreisen des Ruhrgebiets für sich zu gewinnen. In der Weimarer Republik blieb vor allem das Zentrum stark und in einigen Teilen des Ruhrgebiets, wie im Norden Dortmunds, wurde die Kommunistische Partei wichtiger als die Sozialdemokratie. In Bochum blieb das Zentrum die in der Weimarer Republik bei allen Wahlen stärkste Partei.

Der Aufstieg der SPD zu derjenigen Partei, die man über viele Jahre mit dem Ruhrgebiet und z.T. mit NRW verband, war also ein Produkt der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Gründe dafür waren komplex. Zum einen führte die Gründung von Einheitsgewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Sozialdemokratisierung der Gewerkschaftsbewegung in der Bundesrepublik. Der starke Antikommunismus in der frühen Bundesrepublik führte zu einer aktiven Verdrängung von kommunistischen Gewerkschafter:innen aus allen Einzelgewerkschaften des DGB, die bereits in den 1950er Jahren ihren Abschluss fand. Die vor 1933 starken christlichen Gewerkschaften wurden zunehmend zu einer Minderheit in der Einheitsgewerkschaft.

„Kümmerer“ für die Menschen vor Ort

Die besondere Nähe der DGB-Gewerkschaften zur Sozialdemokratie war seit den 1950er Jahren sehr deutlich. Gerade im Bergbau und in der Stahlindustrie, den beiden dominanten Wirtschaftszweigen im Ruhrgebiet, wurde so das sozialdemokratische Milieu über sozialdemokratische Betriebsräte in die Betriebe getragen. Zugleich vollzog sich der Aufstieg der sozialdemokratischen Ortsvereine im Ruhrgebiet. Hier wurden Sozialdemokrat*innen zu klassischen „Kümmerern“ im Stadteil, zu denen man gehen konnte, wollte man vor Ort etwas erreichen. Im Betrieb und in den Wohnvierteln waren damit Sozialdemokrat*innen präsente Ansprechpartner*innen für die Alltagsprobleme der Menschen vor Ort. Sie bauten ein engmaschiges soziales Netz auf, in dem sich die Menschen geborgen fühlten. Starke lokale und regionale Politikerpersönlichkeiten, man denke auf Landesebene nur an Johannes Rau, taten das ihre, um die starke Position der SPD auszubauen.

Mit dem langsamen, aber stetigen Niedergang der Montanindustrie seit den 1960er Jahren taten sich dann immer größer werdende Löcher in den Fangnetzen der SPD im Ruhrgebiet auf. Diese konnten in den 1980er Jahren noch gestopft werden mit einem relativ erfolgreichen Management des industriellen Niedergangs, der sozial abgefedert wurde und gerade für Berg- und Stahlarbeiter bedeutete, dass niemand „ins Bergfreie fiel“. Der massive Ausbau der Industriekultur in der Region seit den 1980er Jahren ist das beredteste Zeichen für den Aufbau einer Erinnerungslandschaft, die den „kleinen Mann“ in den Mittelpunkt einer doppelten Erfolgsgeschichte der Industrialisierung und des Strukturwandels der Region stellte.

Politisierung der Erinnerungslandschaften

Der Aufbau dieser Erinnerungskultur, die weltweit ihres gleichen sucht, erfolgte allerdings, ohne dass man explizit an die Kämpfe der Vergagenheit erinnerte, die den kollektiven Aufstieg der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet nach 1945 überhaupt erst möglich gemacht hatte. Stattdessen stärkt die Erinnerung ein regionales Wir-Gefühl, das keine sozialen Unterschiede kennt. Eine einsetzende Depolitisierung der Erinnerungslandschaft des Ruhrgebietes führte dazu, dass diese Erinnerung nicht dazu genutzt werden konnte, die zunehmende Vereinzelung und Individualisierung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, gerade unter jüngeren Generationen, aufzuhalten. Eine „Gesellschaft der Singularitäten“ wie sie der Soziologe Andreas Reckwitz nennt, kann mit dem Spruch, den man heute noch auf einer der Brücken über der A40 bei Essen lesen kann: „Das Ich kommt aus dem Wir“, nichts anfangen, aber es ginge gerade darum, das starke kollektive Selbstverständnis der Arbeiter*innen in der Region aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu transportieren.

Will man also die SPD im Ruhrgebiet wieder stärken, führt zumindest ein Weg (und es ist beileibe nicht der einzige) über die Politisierung der Erinnerungslandschaften der Region. Gerade den arbeitenden Menschen im Ruhrgebiet muss deutlich vor Augen stehen, wie wichtig die sozialen Kämpfe der Vergangenheit für eine soziale Einbettung des Kapitalismus in der Bundesrepublik war, die im Ruhrgebiet eine ihrer paradigmatischsten Regionen hatte. Ein erster Schritt zu einer solchen Politisierung ist die Einrichtung einer Route der sozialen Kämpfe, ein Gemeinschaftsprojekt der Hans-Böckler Stiftung mit dem Regionalverband Ruhr. Dabei thematisiert eine solche Route natürlich nicht nur Erinnerungsorte der Sozialdemokratie, sondern vor allem solche der sozialen Demokratie, die, als wichtige Ergänzung der politischen Demokratie, das demokratische Gemeinwesen der Bundesrepublik insgesamt stabilisiert.

Eine Route der sozialen Kämpfe

Von daher sind es Orte, an denen sich eine Vielzahl progressiver, demokratischer Bewegungen, von den neuen sozialen Bewegungen bis zu christlichen Arbeitnehmerorganisationen wiederfinden dürften. Als eine der historisch wichtigsten Stützen beim Aufbau einer sozialen Demokratie in Deutschland, ist aber eben auch und gerade die SPD eine politische Partei, die von einer Stärkung und Politisierung der Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie im Ruhrgebiet profitieren würde. Die Route der sozialen Kämpfe ist deshalb ein kleiner Beitrag auch zur Wiedererstarkung der Sozialdemokratie als politischer Kraft in der Region.

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Stefan Berger

ist Professor für Sozialgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum, wo er das Institut für soziale Bewegungen leitet. Er ist Mitglied der SPD und des Geschichtsforums.

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