Wie die Arbeiterwohlfahrt den Sozialstaat geprägt hat
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Für die Arbeiterwohlfahrt war 2019 ein besonderes Jahr. Mit zahlreichen Festveranstaltungen und einer Vielzahl weiterer Aktivitäten beging der sozialdemokratische Wohlfahrtsverband sein 100-jähriges Jubiläum. Die zentrale Feier des AWO Bundesverbands fand am 13. Dezember in Berlin statt, am Tag darauf verabschiedete eine Delegiertenkonferenz ein neues Grundsatzprogramm.
Auf Initiative von Marie Juchacz
Genau 100 Jahre zuvor, am 13./14. Dezember 1919, beschließt der SPD-Parteiausschuss auf Initiative von Marie Juchacz die Gründung eines zentralen Ausschusses, um die vielfältigen Wohlfahrtsaktivitäten der Partei zu bündeln – die Arbeiterwohlfahrt tritt in die Welt. Vielerorts werden bald lokale Gliederungen ins Leben gerufen. Sie werden insbesondere von Sozialdemokratinnen getragen, die mit Beginn der Weimarer Republik am politischen Leben teilnehmen können und ihre Tätigkeit in der Arbeiterwohlfahrt als wichtigen Baustein sozialdemokratischer Sozialpolitik ansehen.
Obwohl die konfessionellen Wohlfahrtsverbände und die bürgerlichen Wohltätigkeitsvereine weiterhin dominieren und die Grundlagen für eine systematische Wohlfahrtsarbeit nur in kurzen Phasen gegeben sind, gelingt ein rascher Aufbau. Die Helferinnen und Helfer organisieren Kinderbetreuung, Nähstuben, Beratungsangebote und weitere soziale Tätigkeiten – außerdem die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitglieder und Angestellten. Ihr Ziel ist es, den Rechtsanspruch auf soziale Absicherung durchzusetzen und die staatlichen Angebote auszubauen. Dieser Ansatz wird 1933 jäh abgebrochen, als sich die Nationalsozialisten der Organisation bemächtigen. Die Arbeiterwohlfahrt wird verboten, ihr Eigentum beschlagnahmt, und ihre Mitglieder werden verfolgt und terrorisiert. Die NS-Volkswohlfahrt übernimmt Inventar und Einrichtungen und stellt sie in den Dienst des Regimes.
Neubeginn nach 1945
Nach 1945 muss die AWO daher wieder von vorn beginnen. Sie kann sich aber auf zahlreiche Engagierte stützen, die den demokratischen Wiederaufbau bewerkstelligen. Als eigenständiger Verband, der sich in der Tradition des demokratischen Sozialismus verortet und seine enge Bindung an die Sozialdemokratie behält, gelingt ihr in der Bundesrepublik eine imponierende Erfolgsgeschichte. Als anerkannter Spitzenverband wirkt sie in einem dichten Netz von staatlichen und privaten Akteuren.
Sie wandelt sich zu einer sozialen Dienstleisterin, die Einrichtungen von der Kinderbetreuung über die Jugendsozialarbeit bis hin zur Müttergenesung, Essen auf Rädern und Altenpflege betreibt. Der Verband vertritt auch die Interessen sozial benachteiligter Bevölkerungskreise: Er begleitet die Sozialgesetzgebung, meldet sich bei öffentlichen Anhörungen und mit eigenen Publikationen zu Wort und setzt sich für die Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz ein.
Einsatz für Solidarität und Teilhabe
Bis Mitte der 1980er Jahre erlebt die AWO ein stetiges Wachstum. In ihren Reihen organisieren sich in der Hochphase mehr als 650.000 Menschen. Die Anzahl der Beschäftigten steigt in den vergangenen 30 Jahren rasant an und beträgt heute mehr als 230.000, während sich die Mitgliederzahl gleichzeitig halbiert und aktuell bei rund 330.000 liegt. Durch komplexe wirtschaftliche Anforderungen und die verschärfte Konkurrenzsituation muss die AWO als wertegebundener Verband auch Spannungen und Widersprüche aushalten und vermittelnd wirken. Angesichts neuer sozialer Herausforderungen und tiefer gesellschaftlicher Spaltungen ist der Einsatz der AWO für Solidarität und Teilhabe aber von drängender Aktualität.
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ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift „Archiv für Sozialgeschichte“ (AfS) der Friedrich-Ebert-Stiftung und Co-Sekretär der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft.