Wie der Grundlagenvertrag den Weg zur Deutschen Einheit ebnete
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Kaum eine Frage hat die Gemüter in den frühen Jahren der Bundesrepublik so sehr beschäftigt wie die Erinnerung an den Untergang von Weimar. „Bonn ist nicht Weimar“ hieß der Titel eines Bestsellers von Fritz René Allemann aus dem Jahr 1956. Der Satz wurde zu einem geflügelten Wort.
Ein Hauch von Weimar in der Luft
Doch zur Zeit der ersten sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und der Ostverträge Anfang der 70er Jahre liegt plötzlich wieder ein Hauch von Weimar über der Republik. Von „Erfüllungspolitik“ ist die Rede, von „Verzicht“ und nationalem Verrat. Die Emotionen schlagen hohe Wellen. Viele fragen sich irritiert, ob die Deutschen wieder in eine Situation geraten könnten, in der sie sich noch einmal in einer Alles-oder-Nichts-Haltung weigern, die selbstverschuldeten Folgen eines verlorenen Krieges zu akzeptieren.
Egon Bahr hatte 1963 in einer richtungweisenden Rede die Formel vom „Wandel durch Annäherung“ in Umlauf gebracht. Es war ein „Plädoyer für eine Wiedervereinigungspolitik neuer Art“. Seit 1969 ist sie Regierungspolitik. Im August 1970 wird der Moskauer Vertrag abgeschlossen, im Dezember der Warschauer Vertrag, und am 3. September 1971 das Viermächteabkommen über Berlin.
Diplomatischer Kunstgriff
Am 21. Juni 1973 tritt der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR in Kraft. Unterzeichnet hatten ihn Egon Bahr als Bundesminister für besondere Aufgaben und Michael Kohl, Sekretär für Westdeutsche Fragen im Politbüro des ZK der SED, am 21. Dezember 1972. Der Vertrag sollte nach den Worten Egon Bahrs das Verhältnis der beiden deutschen Staaten „untereinander und gegenüber Dritten“ regeln „und bis zur Wiedervereinigung nicht mehr revisionsbedürftig“ sein. Das hat sich im Rückblick als eine zutreffende Prognose herausgestellt.
Nur mühsam kamen die Verhandlungen voran, weil die DDR forderte, nach Abschluss der Verhandlungen müsse eine völkerrechtliche Anerkennung des ostdeutschen Staates stehen. Das war für die Bundesrepublik auf Grund des grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebots unakzeptabel. Die Lösung bestand in einem diplomatischen Kunstgriff, der den Nachkriegsrealitäten Rechnung trug. Denn zur deutschen Frage gehörte auch die Vier-Mächte-Verantwortung für Gesamtdeutschland. Die Lösung der deutschen Frage musste also zwingend offen bleiben. Sie blieb es bis zu den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen 1990.
Der Brief zur deutschen Einheit
In der Endfassung des Grundlagenvertrages verpflichten sich die Vertragspartner, normale, gutnachbarliche Beziehungen zueinander zu unterhalten, sich von den Prinzipien der UN-Charta leiten zu lassen und gegenseitig auf Gewaltanwendung und Gewaltandrohung zu verzichten. Die zwischen beiden Staaten bestehende Grenze wird für unverletzlich erklärt, die territoriale Integrität und die Beschränkung der Hoheitsgewalt auf das jeweils eigene Staatsgebiet und die jeweilige Respektierung der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit beider deutscher Staaten ausdrücklich bekräftigt.
Wie beim Moskauer Vertrag übergibt die Bundesregierung noch vor Abschluss einen „Brief zur deutschen Einheit“. Darin heißt es, dass der Vertrag „nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“.
Die Bundesrepublik und die DDR unterhalten nun zwischenstaatliche Beziehungen, mit der Einschränkung, dass sie durch den bleibenden Viermächtevorbehalt Teile eines Ganzen bleiben und deshalb keine Botschaften, sondern Ständige Vertretungen in Bonn und Ost-Berlin verabreden. Im Außenverkehr sind sie jedoch frei. Ein kompliziertes Vertragsgebilde ist vollendet, das beiden Staaten Handlungsfreiheit eröffnet, ohne dass die Bundesrepublik dabei ihren Anspruch auf die fortbestehende Einheit der Nation beiseitelegen muss.
Der Text wurde am 20. Dezember 2012 veröffentlicht.
Rolf Hosfeld ist wissenschaftlicher Leiter des Potsdamer Lepsiushauses und freier Autor. 2010 erhielt er den Preis "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuletzt erschien von ihm "Tucholsky. Ein deutsches Leben".