Geschichte

Wie der Ex-Spion Herbert Kriedemann die SPD nach 1945 neu aufbaute

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Herbert Kriedemann die wichtigste Stütze Kurt Schumachers: Gemeinsam leiten sie den Wiederaufbau der SPD in Westdeutschland ein. Doch dann wird Kriedemanns Arbeit als Doppel-Agent publik.
von Lothar Pollähne · 1. März 2023
Herbert Kriedemann: Ein Mensch mit vielen Talenten
Herbert Kriedemann: Ein Mensch mit vielen Talenten

Die Zukunft der gesamtdeutschen Nachkriegs-SPD wird am 2. Februar 1946 in Moskau besiegelt. Stalin erklärt seinem Vasallen Walter Ulbricht unmissverständlich, dass er in seinem Machtbereich keine sozialdemokratische Partei dulde. Das wissen natürlich Gustav Dahrendorf und Otto Grotewohl vom Zentralausschuss der SPD in Berlin, als sie am 8. Februar 1946 in Braunschweig mit Kurt Schumacher und dessen Bevollmächtigtem Herbert Kriedemann zusammentreffen. Die Berliner Genossen erklären den Hannoveranern, dass „die Entwicklung zur Einheitspartei nach Tendenz und Inhalt nicht mehr unter ihrem Einfluss stünde“, erinnert sich Kriedemann später in einem Protokoll.

Herbert Kriedemann ist Kurt Schumachers wichtigste Stütze in der Frühphase des sozialdemokratischen Neuaufbaus. Bereits im Vorfeld des ursprünglich von Schumacher als „Reichskonferenz“ angekündigten Zusammentreffens in Wennigsen bei Hannover agiert Kriedemann als gewiefter Stratege. Erst einen Tag vor Beginn der Konferenz erlaubt die britische Militärregierung am 4. Oktober 1945 die Zusammenkunft. Kriedemann unterzeichnet das „Military Government Permit“, das am 5. Oktober nur Delegierte aus der britischen Zone, aber keine Gäste zulässt. Die darf Kriedemann für den 6. Oktober zu einer gesonderten, privaten Versammlung einladen, an der dann auch die offiziellen Delegierten teilnehmen dürfen.

Hoch begabt, weltläufig, sehr schlagfertig

Herbert Kriedemann kommt im Sommer 1945 nach Hannover und bereichert das eher biedere „Büro Dr. Schumacher“ mit einer Portion Weltläufigkeit. Wahrscheinlich hat Schumachers „Aufbau-Sekretär“ Egon Franke Kriedemann in Niedersachsen aufgespürt, so wie er schon Alfred Nau, den Arbeitersport-Funktionär Fritz Wildung und dessen Tochter Annemarie Renger für das „Büro Dr. Schumacher“ entdeckt hatte. Kriedemann wird sehr schnell zum engen Vertrauten und Bevollmächtigten Kurt Schumachers. Der Historiker Stefan Appelius beschreibt Krieidemann als „überdurchschnittlich begabten Intellektuellen, sehr schlagfertig und nie um eine Antwort verlegen.“

Herbert Kriedemann wird am 1. März 1903 in Berlin geboren. Nach seiner Schulzeit absolviert er eine Landwirtschaftslehre und arbeitet anschießend als landwirtschaftlicher Beamter. Das füllt den wissbegierigen jungen Mann offenbar nicht aus und er studiert Agrarwissenschaften und Nationalökonomie. 1925 tritt Herbert Kriedemann der SPD bei, für die er nach Abschluss seines Studiums hauptamtlich als Bildungsreferent arbeitet. Mithin ist er bis zur Machtübertragung an die Nazis ein Mann des Parteiapparats.

Zweifel an der Integrität Kriedemanns

Nachdem er zunächst illegal in Deutschland tätig war, geht er 1934 ins Exil nach Prag und arbeitet für den Exilvorstand der „SoPaDe“. Kriedemann wird zuständig für die Betreuung der aus Nazi-Deutschland entsandten Kuriere. Bald jedoch ergeben sich, wahrscheinlich genährt durch Erkenntnisse Erich Ollenhauers, Zweifel an der Integrität Kriedemanns. Versehen mit einer Abfindung quittiert Herbert Kriedemann im Juli 1935 seinen Dienst bei der SoPaDe. Angeblich will er mit Politik nichts mehr zu tun haben und geht nach Estland, wo er in seinem Beruf als Landwirt arbeiten will. Doch das Vorhaben scheitert nach nur fünf Monaten.

Im März 1936 nimmt Kriedemann das Angebot eines niederländischen Freundes an und zieht nach Amsterdam. Der Exilvorstand in Prag warnt die niederländischen Genoss*innen wenig später: „Wir möchten sie (…) bitten, sich des Genossen Kriedemann auch sonst anzunehmen, da leider die Gefahr besteht, dass der Genosse Kriedemann auf die Dauer den seelischen Belastungen der Emigration vielleicht nicht gewachsen ist.“ Wahrscheinlich steht Herbert Kriedemann bereits zu diesem Zeitpunkt im Solde der Gestapo. Geführt wird er als Spitzel „V 9“. Dennoch stellt er sich in den Dienst der deutsch-feindlichen Spionage. Kriedemann betreibt nicht nur ein doppeltes Spiel, sondern spioniert gleichzeitig noch für den tschechoslowakischen Generalstab.

Ein Hochverräter auf Bewährung?

1938 werden drei niederländische Kuriere in Deutschland von der Gestapo verhaftet und Herbert Kriedemann wird von den niederländischen Genoss*innen verdächtigt, die Männer verraten zu haben. Nach dem Einmarsch Nazi-Deutschlands in die Niederlande wird Herbert Kriedemann verhaftet und im Oktober 1941 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu einer ungewöhnlichen milden Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die obendrein auf Veranlassung der Gestapo zur Bewährung ausgesetzt wird.

„Bewähren“ darf sich Kriedemann als Gutsinspektor in der Nähe von Halberstadt. Nach kurzer Zeit verhaften ihn die Nazis erneut und Kriedemann gesteht, dass er in den Niederlanden Verbindung zum britischen Geheimdienst gehabt hat. Das hätte der „Nazi-Justiz“ gewöhnlich für ein Todesurteil gereicht, aber Kriedemann kommt mit drei Jahren Gefängnis davon und bleibt auf freiem Fuß. Wie viele Menschen durch Kriedemanns Spitzeltätigkeit zu Schaden gekommen sind, lässt sich nicht ermitteln.

Ollenhauer und Heine warnen Schumacher

Als Erich Ollenhauer und Fritz Heine aus dem Londoner Exil nach Deutschland zurückkehren dürfen und im „Büro Dr. Schumacher“ auf Herbert Kriedemann stoßen, sind sie entsetzt und machen Kurt Schumacher auf dessen zweifelhafte Vergangenheit aufmerksam. Kriedemann gelingt es jedoch in einem langen nächtlichen Gespräch, Kurt Schumacher von seiner Unschuld zu überzeugen. Kriedemanns Parteikarriere steht danach nichts mehr im Wege. Als Agrarspezialist wird er besoldetes Mitglied des Parteivorstands. 1946 erhält er für kurze Zeit ein Mandat im ersten, ernannten Niedersächsischen Landtag, das er jedoch nach nur zwei Monaten wieder aufgibt, weil er zum Mitglied des bizonalen Wirtschaftsrates ernannt wird.

Ein parteiinternes Untersuchungsverfahren stellt 1948 fest, dass es „keinerlei Ursache“ für Misstrauen gegen Herbert Kriedemann gebe. Für Egon Franke, der nach den Einlassungen Ollenhauers und Heines ebenfalls auf Distanz zu Kriedemann gegangen war, erklärt daraufhin „Wir müssen uns im vollen Vertrauen darauf verlassen und brauchen nicht weiter nachzuforschen.“ Für die SPD ist das bedeutsam, denn im Bundestagswahlkampf 1949 — Herbert Kriedemann kandidiert im Wahlkreis Hameln-Springe — veröffentlicht die KPD Dokumente, die Kriedemann belasten sollen. Der SPD-Vorstand wertet dies als „kommunistisches Kesseltreiben“. Im „Kalten Krieg“ geht es der Partei darum, ihr Gesicht zu wahren und der aufkeimende Anti-Kommunismus kommt ihr dabei zu Pass.

Kriedemann schweigt bis zu seinem Tod

Herbert Kriedemann äußert sich nicht zu den Vorwürfen, auch nicht, als er 1972 nach 23 Jahren aus dem Deutschen Bundestag ausscheidet und mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland geehrt wird. Herbert Kriedemann stirbt am 20. Januar 1977 in Bad Homburg. Eine peinliche Geschichte für die Partei (Fritz Heine) wird mit ihm zu Grabe getragen.

Literaturempfehlung: Stefan Appelius, Heine — Die SPD und der lange Weg zur Macht, Klartext-Verlag Essen, 1999

Autor*in
Avatar
Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare