Geschichte

Wie „Arbeiterphilosoph“ Joseph Dietzgen Marx und Engels beeindruckte

Der Sozialdemokrat Joseph Dietzgen gilt als Begründer des dialektischen Materialismus. Der gelernte Gerber beweist, dass auch Arbeiter bedeutende Beiträge zur Philosophie leisten können. Zu Unrecht ist er heute vergessen.
von Lothar Pollähne · 14. April 2023
Joseph Dietzgen auf einer frühen Fotografie um 1845: Der sozialdemokratische Politiker und Philosoph will eine „sozialistische Ordnung und keine anarchistische Unordnung“.
Joseph Dietzgen auf einer frühen Fotografie um 1845: Der sozialdemokratische Politiker und Philosoph will eine „sozialistische Ordnung und keine anarchistische Unordnung“.

Als im Frühjahr 1848 Revolutionen in deutschen Landen ausbrechen, erreicht das aufrührerische Virus auch den kleinen Ort Uckerath im beschaulichen Siegerland. Ein Mann besteigt mitten auf der Hauptstraße einen Stuhl und ruft zum Umsturz der alten feudalen Ordnung auf. Dass die Agitation erfolgreich gewesen wäre, ist nicht bekannt, wohl aber der Name des Agitators: Joseph Dietzgen. Den kennt in Uckerath und Umgebung fast jedes Kind, denn er ist einer von ihnen und spricht ihre Sprache, schnörkellos und direkt.

Geboren wird Peter Joseph Dietzgen am 9. Dezember 1828 in Blankenberg als erstes von fünf Kindern einer alteingesessenen Gerberfamilie. 1835 verlegt der Vater Johann Dietzgen seinen Betrieb ins nahegelegene Uckerath. Dort besucht Joseph Dietzgen die Volksschule. Die Eltern ermöglichen dem wissbegierigen Jungen den zweijährigen Besuch der Bürgerschule in Köln und anschließend für ein halbes Jahr den Aufenthalt an einer Lateinschule. Dietzgen verfügt also über ein gewisses Maß an Bildung, als er 1845 im Betrieb seines Vaters eine Lehre als Lohgerber beginnt.

Der Revolutionär geht in's Exil

Während seiner Lehrjahre bildet sich Joseph Dietzgen autodidaktisch weiter und lernt Französisch. Dietzgens Sohn Eugen berichtet, dass Joseph während der Lehre immer ein aufgeschlagenes Buch am Arbeitsplatz liegen hatte. Er liest philosophische und nationalökonomische Schriften, begeistert sich für die Literatur des Vormärz und beginnt eigene sozialschwärmerische Gedichte zu verfassen.

Nach der achtundvierziger Revolution verlässt Joseph Dietzgen — wie viele andere Revolutionär*innen — seine Heimat und geht ins Exil in die USA. 1851 kehrt er zurück und arbeitet zunächst bei seinem Vater. Im Jahr darauf wird Joseph Dietzgen Mitglied im „Bund der Kommunisten“, ohne jedoch eine führende Tätigkeit zu übernehmen. Um wirtschaftlich unabhängig zu sein, eröffnet er 1853 einen Kolonialwarenladen mit Bäckerei und Gerberei und beginnt eine Korrespondenz mit dem von ihm verehrten Philosophen Ludwig Feuerbach.

Erfolgreich auch als Unternehmer

Nach der Pleite seines Geschäfts emigriert Joseph Dietzgen 1859 erneut in die USA, wo er sich als Gerber in Montgomery, Alabama niederlässt. Mit Beginn des Sezessionskrieges verlässt der entschiedene Gegner der Sklaverei 1861 die Vereinigten Staaten zum zweiten Mal und arbeitet wieder im Betrieb seines Vaters. 1862 gründet Dietzgen mit Freunden die „Siegburger Gesellschaft für wissenschaftliche Unterhaltung“, eine sozialistische Tarnorganisation, deren Vorsitz er übernimmt.

Joseph Dietzgen ist in jenen Jahren ein unsteter Mensch. 1863 bewirbt er sich auf eine Annonce hin um die Leitung der Wladimir’schen Lederfabrik in St. Petersburg und wird genommen. Bis 1868 macht er die Gerberei zu einem Erfolgsunternehmen und verfünffacht die Produktion. Dennoch findet er weiterhin genügend Zeit, um sich weiter zu bilden und zu schreiben. 1867 erhält Dietzgen ein Exemplar von Karl Marx’ „Kapital“ zugesandt und ist begeistert. Er schreibt eine ausführliche Rezension für die Zeitung des Petersburger Deutschen Arbeitervereins, die er Marx, versehen mit einem Begleitbrief, nach London schickt.

Lob von Marx und Engels

„Entschuldigen Sie, verehrter Herr!“, schreibt Dietzgen, „daß ich mir anmaße, derart ihre Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Ich vermeinte Sie durch den Beweiß erfreuen zu können, daß die Philosophie eines Handarbeiters klarer ist, wie durchschnittlich unsere heutige Professoren-Philosophie. Ihren Beifall würde ich höher schätzen, als wenn irgend eine Akademie mich wollte zu ihrem Mitgliede ernennen.“ Marx bedankt sich im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital und rühmt Joseph Dietzgen als „überlegenen Kämpen“, der weit über den Vulgärökonomen, den „breitmäuligen Faselhänsen“ stünde.

1868 bringt Joseph Dietzgen seine eigenen politisch-philosophischen Gedanken zu Papier, die ein Jahr später in Marxens Verlag Carl Meissner als „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. Dargestellt von einem Handarbeiter. Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft“ erscheinen. Dietzgen geht es um die Wahrheit und die Frage, wie sie zu erkennen sei. Friedrich Engels bezeichnet dieses Werk als Begründung des dialektischen Materialismus.

Delegierter auf dem Eisenacher Parteitag

Nachdem er die Gerberei seines Onkels in Siegburg geerbt hat, kehrt Joseph Dietzgen 1869 ins Siegerland zurück. Wirtschaftlich unabhängig kann er sich verstärkt der sozialdemokratischen Bewegung widmen und wird im selben Jahr Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. In die aktuellen politischen Auseinandersetzungen jener Jahre mischt sich Dietzgen vor allem als Autor in den sozialdemokratischen Presseorganen ein. 1873 allerdings nimmt er als Delegierter am Eisenacher Kongress der Partei teil und kandidiert 1881 erfolglos für den Reichstag im Landkreis Leipzig.

Im Juni 1878 hält Joseph Dietzgen in Köln einen Vortrag über die „Zukunft der Sozialdemokratie“ und erklärt: „Die Sozialisten werden wohl viel von der Windbeutelei, von den Fransen und dem Schnickschnack der heutigen Welt beseitigen, ihre Produktion verständiger und einheit­licher halten; aber den Reichtum der Mannigfaltigkeit werden sie sich doch nicht nehmen lassen. Es ist verstän­dig, dass wir unsere Launen und Kaprizen zügeln, also die übermäßigen Schnörkel stutzen, aber die Verschiedenheit des Talents, der Gesinnung und des Geschmacks darf nicht leiden. Nicht Armut, keine Abstinenz und kein Zölibat, kein christlicher Unsinn, sondern Reichtum ist unser Prinzip, und die planmäßige demokratische Produktion kann keine berechtigte Eigentümlichkeit verkümmern lassen.“  Die Offenheit trägt ihm drei Monate Untersuchungshaft ein.

Chef der „Arbeiterzeitung“

Joseph Dietzgens letzter Lebensabschnitt beginnt 1884 mit der dritten Auswanderung in die USA. In New York City übernimmt er die Leitung des Zentralorgans der „Socialist Labour Party“. Auch als er 1886 nach Chicago zieht, bleibt er als Korrespondent dem Blatt treu. Chicago ist das Zentrum der Kämpfe für den Acht-Stunden-Tag. Nach einem, wahrscheinlich von Pinkerton-Agenten verübten, Bombenattentat am 4. Mai 1886 verschärft sich die Repression gegen die anarchistisch geprägte Arbeiterschaft in Chicago. Die Redakteure der „Arbeiterzeitung“ werden verhaftet und Joseph Dietzgen übernimmt vorübergehend die Leitung des Blattes. Er sieht sich als Vermittler zwischen Anarchist*innen und Sozialist*innen, sieht aber als Ziel seiner Bestrebungen eine „sozialistische Ordnung und keine anarchistische Unordnung“.

Am 15. April 1888 stirbt der „Arbeiterphilosoph“ Joseph Dietzgen in Chicago mitten im Gespräch über den „unmittelbar bevorstehenden Kollaps des kapitalistischen Systems“. Sein Nachruhm währt nur kurze Zeit. Die orthodoxen Adepten von Marx und Engels tilgen Joseph Dietzgen in der 1930er Jahren systematisch aus den Annalen des Sozialismus.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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