Geschichte

Wie Adenauer die SPD mittels Wahlrecht schlagen wollte

Die Union fürchtet bei der Bundestagswahl 1953 eine Niederlage gegen die SPD. Deshalb setzt Adenauer eine Änderung des Wahlrechts durch. Von nun an gibt es eine Erst- und eine Zweitstimme.
von Klaus Wettig · 19. Juni 2018
Starke sozialdemokratische Akzente: Die SPD hat wichtige Vorhaben im Konjunkturpaket durchgesetzt.
Starke sozialdemokratische Akzente: Die SPD hat wichtige Vorhaben im Konjunkturpaket durchgesetzt.

Im Parlamentarischen Rat muss 1949 ein Kompromiss gefunden werden, um für die erste Wahl zum Bundestag ein Wahlgesetz verabschieden zu können. Die SPD hält mit Unterstützung der kleinen Fraktionen am Verhältniswahlrecht fest, das sie schon in der Weimarer Reichsverfassung verankert hatte. Nach wie vor sind die Erfahrungen mit dem Mehrheitswahlrecht im Kaiserreich in der Partei lebendig: Die SPD erhielt im damaligen Reichstag wesentlich weniger Sitze, als ihr nach dem prozentualen Stimmenanteil zugestanden hätten. Dagegen steht die Auffassung der CDU/CSU, die mit einem Mehrheitswahlrecht sympathisiert.

SPD erzwingt 1949 Verhältniswahlrecht mit einer Stimme

Die SPD erzwingt 1949 den Kompromiss, so dass das Verhältniswahlrecht beschlossen wird, jedoch mit einer wichtigen Ergänzung: 242 Abgeordnete sollen in Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt werden. Die Gesamtzahl der von einer Partei gewonnenen Mandate wird jedoch nach dem Verhältniswahlrecht berechnet. Die Direktmandate werden von der Gesamtzahl der Mandate abgezogen, der Rest entfällt auf Landeslisten, die in jedem Bundesland aufzustellen sind. Es gibt nur eine Stimme. Außerdem gibt es eine Sperrklausel: Die Partei muss wenigstens 5 Prozent in einem Bundesland oder ein Direktmandat erreichen.

Die erste Bundestagswahl bringt ein Mehrfraktionen-Parlament hervor, in dem die CDU/CSU mit 31,0 Prozent und die SPD mit 29,2 Prozent dicht beieinander liegen. Der CDU/CSU gelingt es, in dieser Konstellation eine Regierung ohne die SPD zu bilden, die mit einer knappen Mehrheit ausgestattet stabil regiert.

Kostet Wiederbewaffnung Adenauer den Wahlsieg?

Jedoch herrscht in der von Konrad Adenauer geführten Koalition die Sorge, dass die als „Bürgerblock“ bezeichnete Koalition die Bundestagswahl 1953 nicht gewinnen wird. Die Diskussion um die beabsichtigte Wiederbewaffnung durch eine westdeutsche Armee stößt auf Ablehnung und die „Ohne-mich“-Bewegung wirbt für die Wahl der SPD. Die Meinungsumfragen zeigen zwar eine wachsende Zustimmung zur Union, doch voller Misstrauen gegenüber dem neuen Instrument der Umfragenforschung glaubt man den Ergebnissen nicht.

Die CDU/CSU-Strategen suchen nach Abhilfe, wie die Koalition durch eine Wahlrechtsänderung gesichert werden kann. Sie verfallen auf ein Zweistimmensystem. Eine Erststimme soll für einen Wahlkreisbewerber abgegeben werden, eine Zweitstimme soll weiterhin über die Mandatszahl entscheiden. Die 5-Prozent-Klausel soll für das gesamte Bundesgebiet gelten, damit hofft man kleinere Parteien aus dem Bundestag fernzuhalten.

Wahlkreisabsprachen der Konservativen

Die von der Parteistimme (Zweitstimme), die später auch Kanzlerstimme genannt wird, getrennte Erststimme soll Wahlkreisbündnisse der Koalitionsparteien ermöglichen, um der SPD Direktmandate abzunehmen. Die Regierungsparteien sollen sich auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, mit der Zweitstimme kann weiterhin die gewünschte Partei gewählt werden.

Für die Bundestagswahl im September 1953 kommt es zu insgesamt 47 Wahlkreisabsprachen zwischen CDU, CSU, FDP, Deutscher Partei (DP) und Bayernpartei, die darauf abzielen, einen SPD-Wahlkreisgewinn zu verhindern. Zum Erfolg führen die Absprachen in ca. 12 Wahlkreisen, wobei DP und FDP die Begünstigten sind. Aufgrund ihres außerordentlichen Wahlsieges mit 45,2 Prozent wäre die CDU/CSU auch ohne Absprachen zu ihren Wahlkreisgewinnen gekommen.

Kaum Auswirkungen auf das Wahlergebnis

Auch 1957 kommt es noch einmal zu Wahlkreisabsprachen, die nur noch der DP nutzen. Die Absprachen der SPD mit der Föderalistischen Union (FU) in Bayern bleiben erfolglos.

Bei den folgenden Bundestagswahlen verzichten die Parteien auf Wahlkreisabsprachen, was das Werben um die Erststimme jedoch nicht beendet. Auf den Mandatsgewinn hat der Erfolg bei den Erststimmen nur selten Einfluss. Erst bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017 beweist die Erststimme ihren Wert für einige SPD-Kandidaten. Sie können nur gewinnen, weil sie mit der Erststimme punkten, bei den Zweitstimmen liegt die CDU in diesen Wahlkreisen nämlich vor der SPD.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare