Geschichte

„Wer Strauß ruft ins Kabinett...

von Die Redaktion · 11. November 2005
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Wehner hatte damit Anfang 1966 die Rolle eines inoffiziellen Parteichefs. Als Willy Brandt aber im Juni 1966 auf dem Dortmunder Parteitag fast einstimmig wiedergewählt wird, übernimmt er wieder die Führung der Partei. Wehner tritt in die Stellvertreterrolle zurück. Doch auch hier hat er maßgeblichen Einfluss. Versuche, eine sozial-liberale Koalition zu bilden, bekämpft er, angesichts der schwachen Mehrheit beider Parteien im Bundestag, als unverantwortlich. Stattdessen wird Wehner einer der Architekten der Großen Koalition mit der Union. Er selbst tritt in die neue Bundesregierung ein und wird Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Er bemüht sich um Verhandlungen mit der DDR, wird dabei jedoch von Kanzler Kiesinger und der Union gebremst.

Nach der Bundestagswahl 1969 vereinbaren der SPD-Parteivorsitzende Willy Brandt und FDP-Chef Walter Scheel noch in der Wahlnacht die Bildung einer sozial-liberalen Koalition, gegen den Rat Herbert Wehners, der sich aber nun nicht mehr durchsetzen kann. Er übernimmt im Oktober 1969 von Helmut Schmidt das Amt des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, das er die ganzen dreizehn Jahre der sozial-liberalen Koalition innehaben wird.

Lars Haferkamp Günter Grass ist empört. Da trommelt er im Bundestagswahlkampf 1965 für die SPD und die Ablösung der CDU und was passiert? Die SPD tritt ein Jahr später in eine Große Koalition ein und wählt Kurt Georg Kiesinger (CDU) zum Bundeskanzler. In einem Protestbrief an Willy Brandt warnt Grass vergeblich: "Die Jugend unseres Landes wird sich nach links und rechts verrennen, sobald diese miese Ehe geschlossen sein wird."

Was war geschehen? Die Regierung Erhard aus CDU/CSU und FDP ist 1966 im Streit um Steuererhöhungen zerbrochen. Die SPD will Neuwahlen, kann sich aber gegen Union und Liberale nicht durchsetzen, die eine Abstrafung durch den Wähler fürchten. Also bleiben zwei Optionen für die SPD: ein Bündnis mit der FDP oder mit CDU/CSU.

Eine sozial-liberale Koalition hat in der SPD-Spitze nur wenig Fürsprecher. Denn die damalige FDP unter Erich Mende ist eher national-liberal und marktradikal ausgerichtet. Auch Kanzlerkandidat Willy Brandt ist angesichts der knappen Mehrheit skeptisch gegenüber einem Bündnis mit der FDP: "Ich war nicht für ein Abenteuer, das ich später vor der Partei und vor der deutschen Öffentlichkeit nicht hätte vertreten können." Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt: Die SPD will erstmals ihre Regierungsfähigkeit im Bund beweisen. Und das geht am besten mit der CDU, die der SPD jahrelang Unfähigkeit zur Regierung attestiert hatte. "Die Salbung mit liberalem Öl genügt nicht, wir brauchen das christdemokratische Weihwasser", argumentiert Herbert Wehner, damals stellvertretender SPD-Vorsitzender.

Dennoch stößt die Große Koalition in der SPD auf Widerstand. Besonders der Eintritt von CSU-Chef Franz-Josef Strauß scheint vielen Genossen eine unannehmbare Provokation. Hunderte demonstrieren vor dem Parteivorstand in Bonn mit Transparenten "Wehner abtreten" und "Wer Strauß ruft ins Kabinett, geht auch mit der NPD ins Bett".

Ungeachtet der Proteste einigen sich SPD und Union auf eine Koalition. Doch Skepsis bleibt, auch in der SPD-Bundestagsfraktion, die das Bündnis mit nur 60 Prozent Ja-Stimmen billigt. Über 100 Bundestagsabgeordnete, vermutlich aus der SPD, verweigern Kiesinger schließlich bei der geheimen Kanzlerwahl die Stimme.

Eines der Hauptziele der Großen Koalition ist 1966 die Bekämpfung von

Rezession, Haushaltsdefizit und Arbeitslosigkeit. Und tatsächlich: Bereits 1968 gibt es wieder ein kräftiges Wirtschaftswachstum, die Inflation ist gebremst und Vollbeschäftigung wiederhergestellt.

Erreicht wird dies mit einer umfassenden Reformpolitik. Zentraler Baustein ist das so genannte Stabilitätsgesetz, das "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft". Es sieht eine mittelfristige Finanzplanung von Bund und Ländern vor mit den Zielen des "magischen Vierecks": Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und wirtschaftliches Wachstum.

Ein wichtiges Instrument der Konjunkturpolitik ist die Konzertierte Aktion unter Wirtschaftsminister Karl Schiller, eine Gesprächsrunde aus Arbeitgebern, Gewerkschaften, Landwirtschaft, Bund, Ländern und Gemeinden, die ein abgestimmtes Verhalten zur modernen Konjunktursteuerung ermöglicht. Mit der großen Strafrechtsreform werden Zuchthausstrafen abgeschafft und die Verpflichtung zur Resozialisierung in das Strafrecht aufgenommen. Liberalisiert wird auch das Sexualstrafrecht: Ehebruch und Homosexualität werden straffrei. In der Bildungspolitik erhält der Bund mehr Kompetenzen, unter anderem beim Hochschulbau, der Bildungsplanung und der Forschungsförderung. Das Berufsbildungsgesetz regelt die nichtschulische Berufsbildung erstmals einheitlich.

Das umstrittenste Reformprojekt der Großen Koalition ist die Notstandsverfassung. Nach dem Deutschland-Vertrag hatten sich die Alliierten vorbehalten, im Falle eines Notstandes die Souveränität Deutschlands einzuschränken. Diese Vorbehaltsrechte erlöschen nach Verabschiedung der Notstandsverfassung. Sie sieht im Spannungs- und Verteidigungsfall die Einrichtung des Gemeinsamen Ausschusses als Notparlament vor sowie - wenn nötig - die Einschränkung von Grundrechten.

Gescheitert ist die Große Koalition dagegen mit der Wahlrechtsreform. Sie sollte das Mehrheitswahlrecht einführen statt des bisherigen Verhältniswahlrechts. So sollten klare Regierungsmehrheiten sichergestellt und das Aufkommen extremistischer Parteien verhindert werden. Nach heftigen Protesten, besonders der FDP, gibt die SPD dieses Vorhaben jedoch auf und ebnet damit den Weg zur sozial-liberalen Koalition von 1969.

Lars Haferkamp

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