Weimarer Republik: Wie der „Vorwärts“ zum Leuchtturm jenseits der Extreme wurde
Der bescheidene Auftritt ist Programm. Nur zwei Reklametafeln verweisen darauf, dass in dem repräsentativen Gründerzeitbau, Berlin, Lindenstraße 3, nicht nur der SPD-Parteivorstand seinen Sitz hat, sondern beinahe versteckt in den Hinterhöfen des verschachtelten Baus, „Burg“ genannt, auch Verlag und Redaktion des „Vorwärts“ untergebracht sind. Obwohl mitten im damaligen Berliner Presseviertel in Kreuzberg liegend, strömt das Domizil des Zentralorgans der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wenig Atmosphäre aus.
Der „Vorwärts“ erobert die Presselandschaft
Eben die „traditionelle Lieblosigkeit sozialdemokratischer Zeitungsbüros“, wie Friedrich Stampfer, von 1916 bis 1933 fast durchgängig Chefredakteur des „Vorwärts“, den spartanischen Sitz von Verlag, Redaktion und Druckerei beschreibt. Ohne Klage. Denn schließlich haben Spenden von Parteimitgliedern, die dringend benötigten „Arbeitergroschen“, geholfen, dass das Anwesen überhaupt gekauft werden konnte.
Die Bescheidenheit des Auftritts, die mit den Pressepalästen der bürgerlichen Medien nicht konkurrieren kann und will, steht in krassem Gegensatz zu dem Einfluss, den sich der „Vorwärts“ in der prallen, vielfältigen Presselandschaft der Hauptstadt der Weimarer Republik erobert. Mit einer Auflage von zeitweise mehr als 300.000 Exemplaren täglich hat das Parteiblatt in der Mitte der 1920er Jahre in der Hauptstadt und darüber hinaus eine Stimme, die tonangebend ist im oft schrillen publizistischen Konzert der Zeit.
300.000 Exemplare täglich
Kaum vorstellbar heute, wie lohnend der Kampf um die Leser in diesen Weimarer Jahren gewesen sein muss. Schon 1920 drucken 20 Tageszeitungen in Morgen-, Mittag- und Abendausgaben ihre Schlagzeilen, lassen sie von ihren Zeitungsverkäufern in den Straßen – sozusagen als gedruckte „Breaking News“ – ausrufen, um einen möglichst großen Teil vom Kuchen der auf gedruckte Informationen angewiesenen Klientel abzubekommen. In den 15 Jahren der Republik, denen Kriegsfolgen, Inflation, Weltwirtschaftskrise, Extremisten von rechts und links ihre Stempel aufdrücken, scheint der Hunger nach Schlagzeilen und Lesefutter unstillbar zu sein.
Und der „Vorwärts“ stillt mit. Auf einem hart umkämpften Markt. In Berlin selbst hat er es mit dem Ullstein-Verlag und dem Mosse-Verlag als den bürgerlich-liberalen Platzhirschen zu tun. Schlimmer ist die Konkurrenz der Extremen. Da muss sich das sozialdemokratische Blatt am rechten, nationalistischen Rand gegen den Hugenberg-Konzern behaupten. Der ehemalige Krupp-Manager, Rechtsnationale und publizistische Steigbügelhalter für die Nationsalsozialisten verfügt dank der Finanzkraft von Industriemagnaten aus dem Ruhrgebiet über ein Presseimperium, mit dem er landesweit Zeitungen beliefert: mit Nachrichten, Berichten, vor allem aber mit republikfeindlichen Kommentaren, die als fertige Zeitungsdruckvorlagen in die Provinz geliefert und ohne Zutun von Redakteuren vor Ort auf die Druckmaschinen gelegt werden, um publizistische Hetze zu verbreiten.
Zwischen Zensur und Freiheit
Von links ist der Druck nicht minder stark. Dort agitiert das Verlagskonglomerat des Kommunisten Erich Münzenberg, der angeblich von Lenin zu diesem Unternehmen inspiriert und finanziell gesponsert wird. Zwischen diesen Extremen, die die Republik publizistisch von rechts und links bekämpfen, muss und kann sich der „Vorwärts“ als verlässliche Informations- und Einordnungsquelle jenseits der Mitte eine gewichtige Stimme verschaffen. So jedenfalls beschreibt der Publizist Hermann Schueler, der zum 125. Geburtstag des „Vorwärts“ eine umfassende Chronik des „Zentralorgans“ vorlegte, die Stellung des Blattes in der Weimarer Zeit.
Das allerdings kann nur gelingen, weil Friedrich Stampfer, Chefredakteur, Reichstagsabgeordneter und Vorstandsmitglied der SPD, einen Spagat wagt. 1916 als Zensor des Parteivorstands geholt, um die gegen den Weltkriegs-Burgfriedenkurs des Parteivorstands anschreibende Redaktion auf Kurs zu bringen, verschafft er der Redaktion später als Chefredakteur andere Freiräume. Trotz des von ihm beschriebenen sozialdemokratischen Dogmas der „auf sich selbst zurückgezogenen Gesinnungspresse“, der pure Unterrichtung und erst recht Unterhaltung ein Gräuel sein sollen, lenkt er das Blatt gerade in diese Richtung.
Mehr als ein Sprachrohr der Partei
Zwar hämmert er seinen Redakteuren ein, dass der „Vorwärts“ seinen Ruf nicht der journalistischen Leistung einiger weniger verdanke, sondern allein der Tatsache, dass es Sprachrohr der wenigstens zu Beginn der Weimarer Republik größten Partei Deutschlands sei. Dennoch: Auch er selbst will nicht immer nur Sprachrohr sein. Als Parteivorstand und Regierung dem Versailler Vertrag 1919 zustimmen, will er die Linie nicht mehr verteidigen und zieht sich zurück. Aber ein halbes Jahr später ist er wieder im Amt.
Obwohl Stampfer den Ruf des „Vorwärts“ nicht in journalistischen Leistungen Einzelner begründet sieht, holt er eben diese Einzelnen, um die publizistische Qualität des Zentralorgans zu heben. Nicht nur im politischen Ressort. Dort ist die Redaktion des „Vorwärts“ ohnehin ein „Who‘s who“ all derer, die sozialdemokratische Politik an entscheidender Stelle bestimmen: vom Parteivorsitzenden Otto Wels über den Reichstagspräsidenten Paul Löbe bis hin zu dem vor wenigen Jahren erst gestorbenen Reichstagsabgeordneten und späteren Chefredakteur des „Vorwärts“ (1955 bis 1957) Josef Felder. Eine heute leider nicht mehr selbstverständliche Übung der Weimarer Zeit: über Politik zu entscheiden und sie gleichzeitig journalistisch zu erklären.
Berühmte Autoren von Joseph Roth bis Kurt Tucholsky
Aber nicht nur politisch bindet der „Vorwärts“ Autoren an sich. Im Feuilleton gewinnt Stampfers Team einen wie den geachteten Schriftsteller Joseph Roth, der als „Roter Joseph“ um die 70 Artikel für das Blatt verfasst. Selbst Kurt Tucholsky, der im Kaiserreich für den „Vorwärts“ geschrieben hat und später eher verächtlich über die Sozialdemokratie spricht, kann – selten zwar – als Autor gewonnen werden.
Und die verschmähte Unterhaltung? Auf sie kann und will das „Sprachrohr der größten deutschen Partei“, wie Stampfer formuliert, nicht verzichten. Ausflugstipps für die Umgebung Berlins, Buchempfehlungen oder der einmal monatlich eingefügte „Jugend-Vorwärts“ verändern in den 1920er Jahren das Zentralorgan und öffnen es für ein Massenpublikum, ohne seinen Charakter als Stimme der Sozialdemokratie zu unterhöhlen.
Die Stimme des „Vorwärts“ ist vernehmlich und in den anstrengenden Jahren der ersten Republik auch für die Partei nie bequem. Radikale von links und rechts reiben sich an ihr, besetzen sie, verbieten sie zeitweise und machen ihr schließlich durch die Nazis den Garaus an ihrem Berliner Stammplatz.
Der „Vorwärts“ ist eines der Leitmedien in der schwierigen Presselandschaft der 1920er und beginnenden 1930er Jahre: Er ist ein Leuchtturm, weil er immer und sehr nachdrücklich die Verteidigung der von vielen Seiten bedrohten Demokratie zu seiner Sache macht.
arbeitete in den 1980er und 1990er Jahren frei für den „Vorwärts". Danach war er Parlamentskorrespondent, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und des Verteidigungsministeriums.