Bereits zwei Tage nachdem es im Reichstag mit 221 gegen 149 Stimmen verabschiedet worden war, trat am 21. Oktober 1878 das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der
Sozialdemokratie" in Kraft. Otto von Bismarck hoffte mit seinem "Sozialistengesetz", das bis 1890 mehrmals verlängert wurde, die trotz polizeistaatlicher Verfolgung immer mehr erstarkende
sozialdemokratische Arbeiterbewegung endgültig ausschalten zu können. Verboten wurden alle sozialdemokratischen Organisationen: die Partei, die Gewerkschaften und Verbände (bis November schon
insgesamt 153), Versammlungen und Publikationen (175 Zeitungen und Zeitschriften, darunter der erst 1876 gegründete Vorwärts). Wegen "illegaller Betätigung für die Sozialdemokratie" verhängten
Gerichte in der Zeit des "Sozialistengesetzes" Gefängnisstrafen von insgesamt fast 1500 Jahren. "Dass man uns wie Vagabunden und Verbrecher ausgewiesen und ohne eine gerichtliche Prozedur von Weib
und Kind gerissen hatte, empfand ich als tödliche Beleidigung", empörte sich August Bebel, der Leipzig 1881 verlassen musste, später in seinen Memoiren. Ohne Gerichtsverfahren wurden rund 900
Sozialdemokraten aus ihren Heimatregionen ausgewiesen.
Welchen Mut und welche persönlichen Opfer das Engagement für die Sozialdemokratie in der heroischen Aufstiegsphase erforderte, illustrieren eindrucksvoll die Festungs- und Gefängnisstrafen
von August Bebel und Wilhelm Liebknecht: Obwohl vom Volk gewählte Abgeordnete, erhielten sie immer wieder langjährige Haftstrafen. Im Juni 1877 erneut zu einem Jahr verurteilt, klagt Bebel in
seinen Memoiren: "Von den acht Weihnachtsfesten, die bis dahin mein Töchterchen erlebt hatte, hatte ich vier in den Gefängnissen zugebracht. Ich hoffte, nicht das fünfte Mal die Weihnachtsfeier im
Gefängnis verbringen zu müssen. Es kam aber doch so." Und es war nicht sein letztes Weihnachten hinter Gittern.
Der Opferbereitschaft und praktizierten Solidarität zehntausender Sozialdemokraten ist es zu verdanken, dass Bismarcks Politik von "Zuckerbrot" (Sozialversicherung) und "Peitsche"
(Sozialistengesetz) kläglich scheiterte und die Sozialdemokratie in der Zeit der Unterdrückung ihren Stimmenanteil verdreifachen konnte. Die Arbeit der Reichstagsfraktion und die Teilnahme
sozialdemokratischer Kandidaten an den Wahlen blieb zwar legal, wurde jedoch durch Polizeiwillkür oft unmöglich gemacht. In Hamburg z.B. konnten die Sozialdemokraten bis 1890 keine einzige
Wahlversammlung abhalten. Dennoch eroberten sie alle drei Wahlkreise.
Da Versammlungen oft verboten wurden oder von überwachenden Polizeibeamten einfach aufgelöst werden konnten, mussten sie im Geheimen organisiert werden: "Einsam und abseits gelegene Lokale,
der Wald, die Heide, die Kiesgruben und Steinbrüche waren gesuchte Versammlungsorte." Sogar Bezirks- und Landesversammlungen gingen geheim vonstatten. Waren sie z.B. als "Gesangverein" getarnt,
"wurde ab und zu ein Lied gesungen" (Bebel). Mehrere Parteitage fanden in der Schweiz statt. Den aus ihren Heimatregionen ausgewiesenen Sozialdemokraten und ihren Angehörigen leisteten viele mit
Geld und Unterkunft solidarische Hilfe und riskierten damit, selbst ins Gefängnis zu kommen.
Für den Zusammenhalt der Sozialdemokraten war es besonders wichtig, dass schon ab 28. September 1879 als Ersatz für den verbotenen Vorwärts in Zürich Der Sozialdemokrat erschien. Dem "Roten
Feldpostmeister" Julius Motteler (1869 Mitbegründer der SDAP, 1874 bis 1878 Reichstagsabgeordneter) und "einer großen Anzahl wagender und gewandter Genossen" (Bebel) ist es zu verdanken, dass Der
Sozialdemokrat jede Woche über die Grenze "geschmuggelt" wurde. Über regionale "Feldpoststationen" gelangte er zu den Abonnenten, deren Zahl ständig wuchs, so dass er bald seine Kosten deckte.*
Die Leiden und Opfer im "Heldenzeitalter unserer Partei" (Kautsky) waren nicht umsonst: Bei den Reichstagswahlen im Februar 1890 - das "Sozialistengesetz" war noch bis 30. September in Kraft
- wurde die SPD mit 19,1 Prozent der Stimmen, vor dem Zentrum mit 18,6 Prozent, zur stärksten Partei Deutschlands. Dieser triumphale Wahlsieg wurde noch gekrönt am 18. März, als der dereinst so
mächtige Widersacher der Sozialdemokratie, Reichskanzler Otto von Bismarck, bei Wilhelm II. seinen Abschied einreichen musste.
Quelle: vorwärts 10/2003
Horst Heimann
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