Was Helmut Schmidt heute (wohl) zum Zustand der EU sagen würde
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Um klare Worte war Helmut Schmidt nie verlegen. „Schmidt Schnauze“ war nicht umsonst ein Spitzname. Das galt auch, wenn der 2015 gestorbene Alt-Kanzler über die Europäische Union sprach. „Es sind zu viele Leute in der EU, die rumquatschen, aber zu wenige Leute, die wissen, wovon sie reden.“ Dieser Schmidt‘sche Satz fiel in einem Gespräch mit dem ehemaligen Außenminister Joschka Fischer, abgedruckt im 2013 erschienenen Buch „Mein Europa. Reden und Aufsätze“.
Das Buch ist eine von mehreren Quellen, die Meik Woyke genutzt hat, um daraus eine fiktive europapolitische Rede für Helmut Schmidt zu schreiben. Woyke ist Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung. „Im Laufe seines politischen Lebens hat Helmut Schmidt stets die Idee eines geeinten Europas vertreten, ohne an Kritik zu sparen. Zwar kann er heute nicht mehr selbst reden, aber ich konnte ihn durch seine Zitate zum Sprechen bringen“, sagt Woyke zum Hintergrund der Rede, die jetzt in einer Spezial-Ausgabe des der Zeitschrift „Internationale Politik“ erschienen ist.
Textstellen „aus dem historischen Zusammenhang gerissen“
Meik Woyke hat dafür Texte von Schmidt aus der „Zeit“ genutzt und auf verschiedene Bücher Schmidts zurückgegriffen. Auch die Rede des Alt-Kanzlers auf dem SPD-Bundesparteitag der SPD in Berlin 2011 und diente als Quelle. Die Textstellen seien zwar „durchweg aus dem historischen Zusammenhang gerissen“ gibt Woyke zu. Sie ließen aber „die Prämissen und Leitlinien“ von Schmidts Europa-Politik lebendig werden.
So gibt Helmut Schmidt in der Rede unumwunden zu, er sei „aus Einsicht in das strategische Interesse der deutschen Nation, nicht aus Idealismus, ein Anhänger der europäischen Integration, ein Anhänger der Einbindung Deutschlands geworden und geblieben“. Allen müssen klar sein, dass Europa nur dann eine Bedeutung in der globalisierte Welt behalte, wenn die Staaten zusammenarbeiteten. „Falls jedoch die Europäische Union im Laufe der kommenden Jahrzehnte nicht zu einer – wenn auch begrenzten – gemeinsamen Handlungsfähigkeit gelangen sollte, so ist eine selbstverursachte Marginalisierung der einzelnen europäischen Staaten und der europäischen Zivilisation nicht auszuschließen.“
„Zur wirtschaftlichen Integration musste nach der Auffassung von Schmidt die politische Union treten. Die Idee von Europa als Wertegemeinschaft und die kulturellen Verbindungslinien zwischen den Bündnisstaaten nehmen in seinen europapolitischen Reden und Artikeln hingegen keinen breiten Raum ein“, betont auch „Ghostwriter“ und Schmidt-Kenner Meik Woyke.
An vielen Stellen brandaktuell
So liest sich die Rede, auch wenn die Quellen bereits einige Jahre alt sind, an vielen Stellen brandaktuell, etwa wenn es um die Rolle Großbritanniens („Denkbar ist leider eine Schrumpfung der EU zu einer institutionell angereicherten Freihandelszone; die Engländer wären damit wohl ganz zufrieden.“) oder das Einstimmigkeitsprinzip bei Entscheidungen geht („Spätestens auf der Maastrichter Konferenz 1991 hätten die internen Spielregeln geändert werden müssen.“)
Die fiktive Schmidt-Rede wirkt damit auch weniger als ein Vermächtnis, sondern vielmehr wie ein Auftrag des Alt-Kanzlers. So wendet er sich zum Schluss auch an seine Zuhörer*innen und sagt: „Ich bitte herzlich darum, dass Sie sich das überlegen und dass Sie möglichst viele Kolleginnen und Kollegen im Büro oder in der Fabrik, Kameraden im Turnverein oder im Sportverein, Gartennachbarn in der Kleingartenkolonie, dass Sie möglichst viele Leute dazu kriegen, mitzudenken und dann mitzutun.“ Das wirkt dann doch sehr lebendig.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.