Warum Karl Marx' 200. Geburtstag so unbefangen gefeiert wird
Thomas Frey
Ganz Trier ist im Marx-Fieber: Während die Stadt in der Vergangenheit vor allem mit ihrer alten Geschichte warb – älteste Stadt Deutschlands, größte römische Siedlung außerhalb Italiens – ist heute alles Marx. Vier große überaus sehenswerte Ausstellungen erinnern an den größten Sohn der Stadt, der in einem schönen Barockhaus in der Brückenstraße am 5. Mai 1818 geboren wurde.
Chinesen sind größte ausländische Touristengruppe
In dem Alkoven im ersten Stock, in dem er angeblich zur Welt kam, legen heute vor allem Chinesen gerne Blumen nieder. Und Chinesen stellen heute unter den Ausländern auch die größte Touristengruppe. Sie kommen nicht wegen der weltberühmten Porta Nigra, wegen der herrlichen Kirchen, sondern wegen Marx, dem – zusammen mit dem Freund und Mäzen Friedrich Engels – Autoren des „Kommunistischen Manifests“ und des „Kapitals“, an dem Marx 18 Jahre lang gearbeitet hat
Seit diesem Samstag können sie am Simeonstiftplatz auch ein Jubiläumsgeschenk ihres Landes bewundern, eine 5,50 Meter hohe, mehr als zwei Tonnen schwere Statue von Karl Marx, das Werk des Bildhauers Wu Weishan. Wenigstens im kommunistischen – im Alltag eher kapitalistischen – China lebt der Marxismus noch. Dort wird auch das „Kommunistische Manifest“ immer noch ernst genommen und seine „Bedeutung für die heutige Zeit“ studiert. Die Trierer Bürger sehen das eher skeptisch. Jedenfalls, so räumt auch Oberbürgermeister Wolfram Leibe (SPD) ein, wird das teure Geschenk kontrovers diskutiert.
Sogar die Katholiken haben sich mit Marx versöhnt
Doch Marx selbst ist in der konservativ-katholischen Stadt längst kein Reizthema mehr. Es war der Prälat des Bistums, Werner Rössel, der in diesen Tagen an ein Zitat des Begründers der Katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning erinnerte, auch der übrigens ein berühmter Sohn der Stadt Trier: „Wir stehen alle auf den Schultern von Karl Marx.“ An den Veranstaltungen zum 150. Todestag hatte sich das Bistum noch nicht beteiligt, heute scheinen sich Katholizismus und Marxismus ein Stück näher gerückt zu sein. Rössel räumte ein, der Kirche sei durchaus bewusst, dass im alten Konflikt zwischen Arbeit und Kapital der Mensch heute keinen Platz mehr habe. „Viele wünschen sich eine sinnstiftende Arbeit.“
Karl Marx kam aus einer klassischen Bildungsbürgerfamilie. Der Vater, ein angesehener Rechtsanwalt, war konvertierter Jude. Das Wohnhaus der Familie mit einem wunderschönen, von hohen Mauern umgebenen Garten, wurde 1927 von der SPD gekauft, 1933 von den Nazis beschlagnahmt, vom NSDAP-Kreisleiter bewohnt und 1947 an die SPD zurückgegeben.
Der deutsche Denker im englischen Exil
Seit 1968 ist es ein lebendiges Museum, betrieben von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Stolz zeigt man dort den von Hinterbliebenen der Marx-Familie jüngst erworbenen Lesesessel des großen Denkers, der ihn auf allen Fluchtwegen durch Europa begleitet hat und in dem er angeblich auch gestorben ist.
Der Oberbürgermeister der Stadt, Wolfram Leibe erinnerte daran, dass Marx seit der Niederschlagung der 1848er Revolution ein politischer Flüchtling war, vertrieben aus dem preußischen Deutschland, vertrieben aus Paris und Brüssel. Eine neue Heimat, allerdings in bitterster Armut, fand er mit seiner Familie erst wieder in London. Seine Frau Jenny von Westfalen, gebildet wie er, enge Ratgeberin, hatte ein hartes Leben mit dem Philosophen: Vier von sieben Kindern starben, Hunger gehörte zum Familienalltag in Soho. Ohne die ständigen Zuwendungen von Friedrich Engels, dem Freund und Wuppertaler Fabrikanten, wäre die Familie wohl verhungert.
Malu Dreyer zeigt Verständnis für Debatten
Während einer Pressekonferenz mit Journalisten aus der ganzen Welt sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), ja, sie könne verstehen, dass manche Trierer mit diesem Ausstellungsjahr ihre Probleme hätten. Was sie damit meinte, war wohl nicht nur der Rummel in der Moselstadt, sondern auch die Tatsache, dass weltweit Marx-Büsten von den Sockeln geholt werden, dass der Marxismus in vielen Ländern eine Blutspur hinterlassen hat und sein Begründer in Trier dennoch geradezu euphorisch gefeiert wird. Die neue milde Sicht auf Karl Marx und sein Werk hat natürlich auch damit zu tun, dass spätestens seit der Bankenkrise nun der Kapitalismus vom Sockel geholt wird, dass Menschen den Verlust ihrer Arbeit fürchten.
Der erste wuchtige Satz im Kommunistischen Manifest, geschrieben 1848, lautet: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Heute treibt nicht mehr die Angst vor dem Kommunismus die Menschen um, sondern die Angst vor einem zynischen, menschenverachtenden Kapitalismus. Auch das mag ein Grund dafür sein, dass die Trierer ihren Marx heute unbefangen feiern können.
Marx lebt weiter als Ampelmännchen in Trier
Und sie tun das nicht nur mit den wunderbaren Ausstellungen von Land, Stadt, Katholischer Kirche und Friedrich-Ebert-Stiftung, sondern durchaus auch augenzwinkernd in der Stadt. Die Fußgängerampeln nahe dem Geburtshaus zeigen Marx als Ampelmännchen. Man kann einen Geldschein „Wert 0“ mit dem Konterfei von Karl Marx in Souvenirshops erwerben. Es gibt Marx-Büsten in knallrot oder aus weißem Gips mit roter Häkelmütze. Zwei Schauspieler, der eine als 17jähriger Schüler Karl, der andere als alter Marx, schlendern durch die Stadt.
Vielleicht kann man ihn so unbefangen feiern, weil das Schreckgespenst heute eher Kapitalismus als Kommunismus heißt. Seitenweise möchte man den wortmächtigen politischen Philosophen zitieren, weil das, was er in einer ganz anderen Zeit schrieb, so aktuell erscheint: „Nach uns die Sintflut ist der Wahlspruch jedes Kapitalisten.“ Oder: „Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.“ Oder: „Wir sind nicht Eigentümer, nur Nutznießer der Erde.“
Marx ist tot, meinten viele nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Doch wer heute die sehr politischen Ausstellungen in Trier besucht, kommt zu einem anderen Schluss: Marx lebt.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.