Warum die SPD als Bremser der Deutschen Einheit gilt
Mit dem 3. Oktober 1990 endete die DDR und damit auch die einzige durch freie Wahlen zu Stande gekommene DDR-Regierung. Markus Meckel, einer der SPD-Gründer in der DDR und Außenminister für ein halbes Jahr, sagte später: „Das war eine Regierung, die etwas tun wollte, was sonst nicht üblich ist: Nicht nur den eigenen Staat, sondern auch das eigene Amt abzuschaffen.“ Denn diese Regierung hatte nur einen Auftrag: die deutsche Vereinigung zu organisieren. Mit dem Einigungsvertrag war diese Aufgabe erledigt. Zeit zum Durchatmen blieb nicht. Zwei Monate nach den Feierlichkeiten fanden die ersten gesamtdeutschen Wahlen statt. Man war also zu diesem Zeitpunkt schon mitten im Wahlkampf.
Große Enttäuschung für die SPD
Warum aber wurden die ersten freien, demokratischen Wahlen in Gesamtdeutschland seit 1932 zu einer so großen Enttäuschung für die SPD? Sie stürzte von 37 Prozent auf 33,5 Prozent ab. Auf CDU/CSU entfielen 43,8 Prozent der Stimmen, die FDP erreichte 11 Prozent. Die Wahlbeteiligung an diesem ersten Adventssonntag, dem 2. Dezember, war mit 77,8 Prozent überraschend schlecht.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Helmut Kohl versprach „blühende Landschaften“ in den fünf neuen Bundesländern, und zwar nicht irgendwann, sondern „schon bald“. An die Adresse der Wähler im Westen versicherte er, dies alles sei zu stemmen ohne Steuererhöhungen oder Probleme für die Sozialkassen, sei sozusagen aus der Portokasse zu bezahlen.
Die Kälte Lafontaines
Der SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine dagegen schaffte es nicht, Optimismus zu zeigen. Mit kühler Rhetorik warnte er vor steigender Staatsverschuldung, unausweichlichen Steuererhöhungen und explodierenden Kosten. Dass er damit so falsch nicht lag, zeigte sich bald nach den Wahlen, nützte der SPD auch nichts. Das Pathos des regierenden Kanzlers stand gegen die gefühlte Kälte des Herausforderers.
Im Rückblick ist es eine erstaunliche PR-Leistung Kohls: Wer spricht heute noch davon, dass der Eiserne Vorhang längst brüchig geworden war, als die Mauer fiel? Und dass die Mauer nicht „fiel“, sondern von mutigen Bürgern der DDR in Berlin und dann im ganzen Land aufgedrückt wurde? Dass andere Ostblockländer auf dem Weg in die Unabhängigkeit und die Demokratie vorangegangen waren? Dass Michael Gorbatschow den Deutschen die Einheit fast auf dem Silbertablett serviert hatte? Dass Sozialdemokraten – allen voran Willy Brandt, Helmut Schmidt und Egon Bahr – durch ihre Politik des „Wandels durch Annäherung“ das Ende des Kalten Krieges vorbereitet hatten? Dass es nicht die CDU in Bonn, sondern die Bürger der DDR waren, die sich nach dem Ende von Mauer und Stacheldraht die schnelle Wiedervereinigung ertrotzt hatten?
Michael Gorbatschows Deutschlandexperte Nikolai Portugalow sagte viele Jahre später zwischen Bewunderung und Spott über den Helmut Kohl jener Zeit: „Er sprang als Bettvorleger und landete als Tiger“.
Engagiert und begeistert für die Einheit
Die Union hat der SPD in jenem Wahlkampf – wider besseres Wissen – unterstellt, sie habe im Einigungsprozess den Bremser gespielt. Hans-Jochen Vogel (damals Parteivorsitzender), Wolfgang Thierse und Erhard Eppler haben deshalb in dem Buch „Was zusammengehört. Die SPD und die deutsche Einheit 1989/90“ aufgeschrieben, wie die Diskussionen in den Gremien der SPD verliefen. Bei der Lektüre wird deutlich, dass es selbstverständlich unterschiedliche Meinungen im Detail gab, auch, dass der Kälte ausstrahlende Kanzlerkandidat Lafontaine keine glückliche Rolle spielte. Ganz klar wird aber auch, wie engagiert, ja begeistert die Partei Willy Brandts zum Gelingen der Vereinigung beitrug.
Erhard Eppler hatte wenige Monate zuvor in seiner bemerkenswerten Rede zum 17. Juni im Bundestag weitsichtig vom tauenden Eis des Kalten Krieges gesprochen und der SED-Führung ein baldiges Scheitern prophezeit.
Für Wolfgang Thierse war und bleibt 1989/1990 „das Jahr der Wunder“. Warum aber wurde der SPD ihr engagierter Einsatz so wenig gedankt, wo doch Willy Brandt mit seinem Satz „Nun wächst zusammen, was zusammen gehört“ zum Helden der DDR-Bürger geworden war? Kohl, so sagt Thierse heute, hat den Menschen „die schmerzlose Lösung aller Probleme in Aussicht gestellt.“ Und das wollten die Wähler natürlich nur zu gerne glauben und nicht an die marode Industrie und die Gefahr einer Massenarbeitslosigkeit erinnert werden.
Brandt hatte die Sympathien, Kohl die Macht
Noch etwas machte der SPD zu schaffen. Im Mai 1990 war der Vorsitzende der Ost-SPD, Ibrahim Böhme, als Stasi-Spitzel enttarnt worden. Das schlug wie eine Bombe ein, machte über viele Wochen Schlagzeilen. Markus Meckel sagte später einmal resigniert: „Wir haben ihm misstraut, aber er war der Liebling der Partei geworden und wir hätten uns selbst herauskatapultiert, denn wir hatten ja keine Beweise.“
Alles zusammengenommen kam es damals, wie es wahrscheinlich kommen musste: Die Menschen in der DDR liebten Willy Brandt, hatten Sympathien für die SPD – aber Kohl hatte als Kanzler die Macht und das Geld.
Man kann diese Zeit zwischen Einigungsvertrag und gesamtdeutschen Wahlen kurz so zusammenfassen: Der eine – Lafontaine – warnte vor Blut, Schweiß und Tränen. Der andere – Kohl – versprach blühende Landschaften. Der eine hatte Recht. Der andere gewann die Wahlen.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.