Warum der „Vorwärts“ 1989 eingestellt wird
Dienstag, 11. April 1989: Hans-Jochen Vogel hat einen anstrengenden Besuch in Moskau hinter sich. Auf dem Rückflug nach Bonn reden wir über den langen Kampf für und um den „Vorwärts“. Mir ist schnell klar: Es ist vorbei. Der Vorsitzende hat sich entschieden. Er wird in drei Tagen im SPD-Vorstand für die Liquidation stimmen. Das Blatt macht Verluste in Millionenhöhe. Vogel will dieses Loch in der Parteikasse nicht länger verantworten.
Der „Vorwärts“ zwischen Leben und Sterben
Der Tod des Blattes ist besiegelt, das 18 Jahre lang zwischen Leben und Sterben schwebte, nie aus der Verlustzone kam; für das immer wieder neue Konzepte ersonnen wurden, die neue Chefredakteure umsetzen sollten; das in der Branche oft einen besseren Ruf besaß als bei der SPD-Führung und das für viele Kollegen zum Sprungbrett wurde – hin zu den Top-Medien. Am schreiberischen Talent kann es nicht zuerst gelegen haben, dass aus der Wochenzeitung „Vorwärts“ keine Erfolgsgeschichte wurde.
Dabei hatte die neuere Geschichte des Blattes 1971 mit Gerhard Gründler hoffnungsvoll begonnen (siehe Seite 26). Doch bald sind Streitereien zwischen Verlagsleitung und Chefredaktion die Regel. Erst recht mit dem jeweiligen Schatzmeister oder Herausgeber. Es sind bittere Jahre. Denn es geht nicht nur um Finanzprobleme, sondern auch um die Richtung der Zeitung. Sie ist Teilen der Parteispitze schlicht zu unabhängig, zu kritisch, zu frech.
Die Krise wächst, die Sorgen auch
Kurzes Aufatmen Ende 1980: Das SPD-Präsidium gibt dem „Vorwärts“ eine Bestandsgarantie für drei Jahre. Egon Bahr wird Herausgeber und bringt Gerhard Hirschfeld als neuen Chefredakteur mit. Aber auch sie haben wenig Fortune – die Krise wächst, die Existenzsorgen bleiben.
Im Juni 1982 schlägt Schatzmeister Fritz Halstenberg überraschend vor, den „Vorwärts“ noch im Sommer einzustellen. Das Präsidium lehnt ab. Wieder heißt es: Neue Konzepte, neue Rettungsversuche (siehe Seite 28). Drei Jahre später der nächste Versuch, die Zeitung zu schließen. Diesmal durch Hans-Jürgen Wischnewski. Auch Ben Wisch scheitert, tritt wenig später als Schatzmeister zurück.
Ein kurzer Vorwärts-Traum
Erst unter Hans Matthöfer wird aus dem jahrelangen Vorwärts-Trauma plötzlich ein – kurzer – Vorwärts-Traum. Der neue Schatzmeister spart nicht, er investiert, erhöht den Redaktionsetat, verdoppelt die Zahl der Redakteure. Wir sind motiviert wie selten zuvor. Die Aufbruch-Stimmung verpufft jedoch bald. Die Redaktion leistet sich Fehler wie den Blutspur-Artikel, in dem eine nicht nachvollziehbare Verbindung zwischen der Ermordung Rosa Luxemburgs bis zu dem Selbstmord der RAF-Terroristen in Stammheim gezogen wird. Schatzmeister und Chefredakteur geraten aneinander, im August 1986 kündigt Hirschfeld fristlos. Nun bin ich als kommissarischer Chefredakteur an der Reihe, den Karren (aus dem Dreck) zu ziehen – bis September 1987. Hans-Ulrich Klose übernimmt die Nachfolge von Matthöfer, und Günter Verheugen wird neuer Chefredakteur.
Unsere Zusammenarbeit läuft reibungslos. Der Erfolgsdruck ist enorm, wir bemühen uns zum x-ten Mal um eine attraktivere Gestaltung des Blattes und starten neue Abo-Aktionen. Sie nutzen nichts mehr. Ende 1988 die Hiobsbotschaft: Das Minus hat die Drei-Millionen-Grenze überschritten. Am 30. Januar 1989 beschließt der SPD-Vorstand, „den ,Vorwärts‘ als Wochenzeitschrift einzustellen“.
Werbekampagnen - nicht ohne Erfolg
Doch unzählige Proteste aus der Partei sowie verheerende Berichte in anderen Medien verschaffen uns Luft bis Ende Februar. Die Vorwärts-Mannschaft nutzt die Zeit für Werbekampagnen. Nicht ohne Erfolg: Am 26. Februar lässt der Vorstand noch einmal prüfen, „in welcher Form die Fortführung des ‚Vorwärts‘ möglich“ wäre.
Das Prüfergebnis ist absehbar: Eine Arbeitsgruppe mit Klose und Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs an der Spitze empfiehlt, den „Vorwärts“ mit sofortiger Wirkung einzustellen. Und zwar endgültig. Am 14. April 1989 stimmt der Vorstand zu – mit 14 Ja- gegen 10 Neinstimmen. Die letzte Ausgabe der Wochenzeitung erscheint einen Tag später.
Hans-Jochen Vogel blickt zurück
Freitag, 13. Februar 2009: Hans-Jochen Vogel ist auf dem Weg nach Dresden, ich nach Görlitz. Zufällig treffen wir uns am Flughafen, reden über das Ende der Wochenzeitung „Vorwärts“. Er spricht davon, dass die Liquidierung des Blattes für ihn mit zu der schwersten und unerfreulichsten Entscheidung als Parteivorsitzender zählt. Sie wäre möglicherweise anders ausgefallen, wenn auch nur ein kleiner Teil der Vorwärts-Befürworter das Blatt auch abonniert hätte.
arbeitete von 1978 bis 1989 beim „Vorwärts“ zuletzt als kommissarischer Chefredakteur. Danach war er Redakteur beim Deutschlandfunk und Personalratsvorsitzender.