Wannseekonferenz: Alle wussten, dass es um Massenmord geht
imago images/Jürgen Ritter
Am 20. Januar 1942 trafen sich NS-Größen in einer Villa am Berliner Wannsee, um die Ermordung der europäischen Juden zu organisieren. Welche Rolle spielte die „Wannseekonferenz“ für den Holocaust?
Die „Dienstbesprechung mit anschließendem Frühstück“ wie die Wannsee-Konferenz damals offiziell bezeichnet wurde, ist nicht der Beginn des systematischen Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden. Der begann bereits im Juli 1941 mit dem Einmarsch des Deutschen Reiches in die Sowjetunion. Bis zum Zeitpunkt der Konferenz waren bereits etwa 900.000 Kinder, Frauen und Männer ermordet worden. Sehr wahrscheinlich wurde bereits im Dezember 1941 auf höchster Ebene entschieden, den Mord an den Juden europaweit auszudehnen und mit Deportationen in die entstehenden Todeslager zu beginnen. Die Besprechung, die heute als Wannsee-Konferenz bekannt ist, diente der Koordinierung. Alle Dienststellen, von denen Vertreter eingeladen waren, sollten sich in ihrem jeweiligen Bereich an der Judenvernichtung beteiligen. Heydrich als Einladender bat hier um Kooperation und sicherte sich gleichzeitig seine führende Rolle in dem Prozess.
Waren sich die 15 Teilnehmer der Konferenz der Tragweite dessen bewusst, was Sie beschlossen haben?
Ja. Alle wussten, dass es um den organisierten elf Millionen fachen Massenmord geht. Zudem gab es bereits seit etwa einem halben Jahr die Lageberichte der Einsatztruppen, die Jüdinnen und Juden systematisch ermordeten. An dem Treffen nahmen auch zwei Kommandeure von Sicherheitspolizei-Bataillonen aus Lettland und dem besetzten Polen teil, die den anderen Teilnehmern sicher von ihren Morderfahrungen berichtet haben. Vor diesem Hintergrund erklärten sich bei der Besprechung am Wannsee alle Teilnehmer zur Kooperation bereit.
Dass wir heute wissen, was bei der Wannsee-Konferenz besprochen und beschlossen wurde, verdanken wir dem Protokoll, von dem nur ein Exemplar erhalten geblieben ist. Welche Rolle hat das Dokument bei der Aufarbeitung des Massenmords gespielt?
Das Protokoll ist eins der Schlüsseldokumente für den Holocaust und die Beteiligung der Verwaltung am Massenmord. Es ist ein klassisches Verwaltungsdokument, in der Sprache distanziert, nüchtern, verallgemeinernd. Von Vergasung, Erschießung oder Ermordung ist darin nicht die Rede, aber im Zusammenhang wird sofort klar, dass genau das gemeint ist, etwa wenn von „natürlicher Verminderung“ oder „entsprechender Behandlung“ gesprochen wird. Insofern stehen die Wannsee-Konferenz und ihr Protokoll als Dokument symbolisch für die Beteiligung des gesamten deutschen Verwaltungsapparats am Holocaust – von der höchsten bis zur untersten Ebene.
Erhalten ist nur eins von 30 Protokollen. Wie kam es dazu?
Die Protokolle waren nummeriert. Erhalten geblieben ist die Nummer 16 aus den Akten von Unterstaatssekretär Martin Luther, der für das Auswärtige Amt an der Besprechung teilgenommen hat. Später wurde Luther eingesperrt, weil er eine Intrige gesponnen hatte gegen Außenminister Ribbentrop. Dadurch kam man in den letzten Kriegsmonaten, in denen viele Akten gesäubert wurden, an seine Unterlagen nicht mehr heran. Darin fand man später eine ganze Akte mit dem Titel „Endlösung der Judenfrage“, in der auch das Protokoll enthalten war. Sie wurde von den Amerikanern gefunden als sie zehntausende Akten sichteten. Ihnen muss schnell klar gewesen sein, dass es das zentrale Beweisstück für die Beteiligung der genannten 15 Personen und den ihnen unterstehenden Verwaltungen am Massenmord ist.
Die Wannsee-Konferenz ist nicht jedem unbedingt gleich ein Begriff. Welche Rolle spielt sie im kollektiven Gedächtnis der Deutschen?
Dieser Frage widmet sich eine Ausstellung, die gerade im Bundestag gezeigt wird. Interessant ist, dass die Wannsee-Konferenz vielen als der Ort und der Tag gilt, an dem der Massenmord an den Juden beschlossen wurde. Offensichtlich gibt es ein Bedürfnis, dieses beispiellose Verbrechen an einen Ort und an ganz konkrete Personen zu binden. Dass wir es stattdessen mit einem sich radikalisierenden Verbrechensprozess zu tun haben, wird dabei vielfach ausgeblendet. Das half und hilft sicher auch dabei, den Holocaust von sich fernzuhalten. So wurde ja auch in den ersten Jahren nach dem Krieg insgesamt verfahren.
Gab es Unterschiede im Umgang zwischen Bundesrepublik und DDR?
Geschichtspolitisch gibt es da natürlich große Unterschiede, bezogen auf die Wannsee-Konferenz aber eigentlich nicht. Die erste Veröffentlichung dazu stammt aus dem Jahr 1950 von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Danach folgte erstmal nicht viel. Es ist ein großes Verdienst der beiden aus der DDR stammenden Historiker Kurt Pätzold und Erika Schwarz, das Protokoll der Konferenz einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. In der DDR ist der gesamte Umgang mit dem Holocaust ja staatlich bestimmt gewesen mit dem Selbstverständnis als antifaschistischer Staat. Zivilgesellschaftliche Diskussionen fanden da kaum statt. In der Bundesrepublik war das insgesamt ganz anders.
Die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz gibt es seit 1992. Hat sich das Bewusstsein für die Bedeutung der Konferenz seitdem verändert?
Ja. Vor 30 Jahren war das Bewusstsein für die Wannsee-Konferenz kaum vorhanden. Es gab zwar eine Fernsehproduktion aus den 80er Jahren, aber nicht viel mehr. Inzwischen ist das Haus der Wannsee-Konferenz bundesweit und auch international bekannt und anerkannt. Das Interesse ist groß. Die Besucherzahlen gehen Jahr für Jahr nach oben. Inzwischen beobachten wir auch eine deutlich größere Bereitschaft, genauer hinzusehen, was gewesen ist. Die früher vorherrschende Abwehrhaltung gibt es so nicht mehr.
Wie schaffen Sie eine Verbindung zwischen den Tätern von damals und der nachfolgenden Generation von heute?
Als sehr erfolgreich hat sich die Arbeit mit Berufsgruppen herausgestellt. Wir sagen z.B. bewusst, dass wir auch ein Stück Geschichte von Verwaltung erzählen und werfen dabei auch die Frage auf, welche Rolle Verwaltung damals spielte und welche sie heute spielt. So lässt sich recht leicht die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart schlagen. Wir bieten auch Seminare bspw. mit Krankenpflegern an, in denen es um die Frage ging, welches Menschenbild zur Zeit des Nationalsozialismus vorherrschte und welches heute. Dabei geht es häufig auch um berufsethische Fragen. Das öffnet vielen die Augen und lässt sie ganz anders auf die damaligen Ereignisse aber auch die eigene Aufgabe heute blicken. Wir sind verantwortlich für das, was wir tun – das ist die Botschaft.
Welche Rolle können Besuche in Gedenkstätten wie dem Haus der Wannsee-Konferenz im Kampf gegen den Antisemitismus heute spielen?
Klar ist, dass wir alle am besten lernen, wenn wir es freiwillig tun. Insofern ist ein verordneter Besuch in einer Gedenkstätte schon im Ansatz unglücklich. Ich sehe unsere Aufgabe eher darin, Interesse zu wecken und die Relevanz des historischen Themas für unser Leben heute deutlich zu machen. Wenn uns das gelingt, können wir auch eine Rolle spielen, wenn es um aktuelle Fragen wie den Kampf gegen Antisemitismus geht. Trotzdem ist das Haus der Wannsee-Konferenz erstmal ein historischer Ort. Ihn zu überfrachten, wäre eine Überforderung aller Seiten – der Besucherinnen und Besucher ebenso wie der Menschen, die dort arbeiten. Der Kampf gegen Antisemitismus muss auch nicht an besonderen Orten stattfinden, sondern in unserem Alltag.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.