Berufe können Menschen deformieren. Der des Politikers besonders. Oft wissen Politiker nicht mehr, wozu die Macht gut sein soll, um die sie kämpfen. Sie verhärten sich, ihr Blick verengt sich,
sie werden zynisch.
Nicht so Willy Brandt. Er ist im politischen Gerangel reifer geworden, gelassener, geduldiger, großzügiger, humorvoller, weiser. Man vergleiche nur die Fotos des 75-Jährigen mit denen des
50-Jährigen.
Am tiefsten hat sich mir eine Begebenheit eingeprägt, in der Willy mehr als sonst aus sich herausging. Wenige Tage nach seinem Kniefall im Warschauer Ghetto hatte er die
sozialdemokratischen Minister seiner Regierung am Abend zu einer Besprechung in den Kanzler-Bungalow eingeladen. Als wir fertig waren, es war schon Mitternacht, bat er mich, noch etwas zu
bleiben. Ich tat es gerne, denn Willy unter vier Augen war nichts Alltägliches. Als wir vor unserem Whisky saßen, reichte er mir die Bildzeitung. Dort wurde der Kanzler kritisiert wegen des
Kniefalls, und zwar mit der Begründung: "Knien tut man nur vor Gott." Während ich, der langsame Schwabe, noch überlegte, was ich dazu sagen könnte, brach es aus Willy heraus. "Woher wissen diese
Schweine, vor wem ich gekniet bin?" Jetzt konnte ich nur noch schweigen.
* Erhard Eppler war von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Quelle: vorwärts 1/2004
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