Geschichte

Vor 50 Jahren: Willy Brandt wird SPD-Chef

von Albrecht Müller · 16. Februar 2014

Am 16. Februar 1964 wurde Willy Brandt zum Vorsitzenden der SPD gewählt und blieb es 23 Jahre lang. Zum 50. Jahrestag erinnert sich Weggefährte Albrecht Müller, wie Brandt mt der Partei umging – und wie die Partei mit ihm.

Immer weniger Sozialdemokraten wissen, was diese Partei Willy Brandt zu verdanken hat. Gut: Er gilt als Vater der Ostpolitik. Aber was er innenpolitisch geleistet hat, was er getan hat, um den Sozialdemokraten nach 20 Jahren CDU/CSU-Herrschaft 1969 die Kanzlerschaft zu erobern und diese dann 1972 zu verteidigen, das erscheint in verschwommenem grauen Licht, je weiter wir von seinem Tod im Jahr 1992 entfernt sind.

Willy Brandt wäre heute 83 Jahre in der SPD, wenn er noch leben würde. Ich bin beigetreten, als Egon Bahr auch im Namen von Willy Brandt die Strategie zum Abbau der Konfrontation in Europa vorstellte: „Wandel durch Annäherung“. Dann konnte ich ab 1970 als Verantwortlicher für Wahlkämpfe der SPD und ab 1973 als Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt miterleben, wie Willy Brandt seine Partei sah und wie er mit ihr, ihren Mitgliedern und Sympathisanten umging.

Alte Zöpfe abschneiden

Er nahm sie ernst, als Multiplikatoren, als Wahlkämpfer und als Menschen, die Inhalte der Politik interessierten und die deshalb am Programm mitarbeiten und Verbesserungen durchsetzen wollten. Mit anderen Worten: ­Willy Brandt akzeptierte und unterstützte, dass Menschen zur SPD kamen, um die Welt zu verbessern. Das hieß konkret in jener Zeit: die Lebensverhältnisse der arbeitenden Menschen und ihrer Familien zu verbessern, die Schulen und Hochschulen für Kinder aus Arbeiterfamilien zu öffnen, Frauen möglichst den Männern gleichzustellen, die soziale Sicherheit und auch die Einkommen der vom Lohn abhängigen Menschen zu verbessern, das Land zu modernisieren und alte Zöpfe abzuschneiden, Frieden zu machen, nach innen und nach außen.

Brandt förderte die programmatische Arbeit. Allein im Jahr vor der Wahl 1972 beschäftigte sich die SPD mit vier gewichtigen Reformprogrammen:

Die Steuerreformkommission unter dem Vorsitz von Erhard Eppler entwickelte eine moderne Steuerreform, die damals übrigens schon den Vorschlag einer Ökosteuer enthielt, genannt „Besteuerung umweltfeindlicher Produkte“.

Die Langzeitkommission unter dem Vorsitz von Helmut Schmidt arbeitete an einem Orientierungsrahmen für die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung.

Eine Kommission unter Vorsitz von Herbert Wehner arbeitete an Vorschlägen zur Vermögensbildung.
Und mitten im Wahlkampf kam der Zwischenbericht der Kommis­sion Bodenrechtsreform, die unter dem Vorsitz von Hans Koschnick gearbeitet hatte, auf den Tisch.

Eine stets schützende Hand

Willy Brandt hat auch gegen Widerstände seine schützende Hand über eine breite programmatische und inhaltliche Diskussion gehalten. Und die SPD hat Sympathien und Wahlen gewonnen. Nicht trotz der inhaltlichen und strittigen Debatte, sondern wegen der breiten Diskussion.

Die Eröffnungsanzeige des Bundestagswahlkampfes 1972 mit Karikaturen des elsässischen Künstlers Tomi Ungerer war überschrieben mit „SPD – Wir gegen uns!“. Und so begann der Text: „Da gibt es doch Leute, die werfen uns vor, dass es unter 870 000 SPD-Mitgliedern verschiedene Meinungen gibt. Und wundern sich, dass Meinungen bei uns offen diskutiert werden.“ – Sich offen zur Vielfalt in der SPD und zur lebendigen Diskussion zu bekennen, und das auch noch im Wahlkampf, war nur mit Willy Brandt möglich. Das machte die SPD attraktiv. Es kamen engagierte und fachlich qualifizierte Leute in die SPD. 1976 waren es über eine Million.

Kein Erfolg ohne Mitglieder

Oft wird geschrieben, die Erfolge bei den Wahlkämpfen 1969 und 1972 ­seien vor allem den Wählerinitiativen außerhalb der SPD zu verdanken. Ohne Zweifel hat das offene Bekenntnis prominenter Personen sehr geholfen. Aber ohne die Überzeugungsarbeit der Mitglieder der SPD in ihrem Umfeld und vor allem auch in den Betrieben wären die großen Erfolge nicht möglich gewesen.

Wie sehr es mit Willy Brandt möglich war, SPD-Mitglieder und Sympathisanten in die Wahlkampfarbeit einzubeziehen, zeigen zwei Beispiele aus dem Wahlkampf 1972. Erstens: Wir platzierten 45 Tage lang eine Kleinanzeige in der Bild-Zeitung. Sie war überschrieben mit: „SPD. Wichtige Nachricht für unsere Freunde.“ Und sie war unterschrieben vom Bundesgeschäftsführer Holger Börner. Zweitens: Die SPD verteilte am frühen Morgen nach wichtigen Fernsehdebatten vor den Betrieben und in den Fußgängerzonen ein kommentierendes Flugblatt mit dem Titel „TV-INTERN“, ein Ansatz, den die Partei auch heute noch nutzt.

Diese Wahnsinnspräsenz wäre ohne aktive Mitglieder nicht möglich gewesen. Und diese Projekte wären ohne den Rückhalt eines Parteivorsitzenden, der seine Mitglieder achtete und schätzte, auch nicht durchsetzbar gewesen.

Übrigens: Ich habe nie erlebt, dass Willy Brandt auf „die Partei“ schimpfte. Auch wenn es manchmal schwer war, den Haufen zusammenzuhalten, hatte er offensichtlich eine große Sympathie für politisch engagierte Menschen.

Zum 100. Geburtstag Willy Brandts ist ein vorwärts-Extra erschienen. Weitere Informationen finden Sie hier.

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Albrecht Müller

ist SPD-Politiker und Publizist

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