Vor 50 Jahren: Millionster Gastarbeiter
Die Fotos vom 10. September 1964 zeigen einen verwirrt blickenden zarten Mann im schlecht sitzenden Anzug. Nach dreitägiger Zugreise war der 38-jährige Portugiese Armando Rodrigues de Sá am Bahnhof in Köln-Deutz angekommen. Mit einem Nelkenstrauß, einer Ehrenurkunde und einem zweisitzigen Zündapp-Moped wurde er als millionster Gastarbeiter begrüßt.
Portugal, ein damals bitterarmes Land, gehörte zu den frühen Anwerbeländern und der Zimmermann Armando Rodrigues hoffte auf ein besseres Leben für sich und seine Familie. Doch Deutschland brachte ihm kein Glück. Während eines Heimaturlaubs wurde er krank, konnte nicht mehr arbeiten, blieb bei der Familie in Portugal. Ein zu lange unentdeckt gebliebener Tumor führte 1979 zum Tod. Die Familie blieb so arm wie zuvor, denn um Medikamente und Krankenhausaufenthalte bezahlen zu können, musste sich Armando Rodrigues seine Rentenansprüche auszahlen lassen. Sein Moped ist heute im Bonner Haus der Geschichte zu besichtigen.
Ausgebeutete Schwerarbeiter
Die frühen Gastarbeiter hatten es nicht leicht in der fremden Welt. Sie verrichteten die Schwerarbeit, die die Deutschen verweigerten: Sie schufteten in der Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet, im Straßenbau, an den Fließbändern. Viele hausten in Baracken und überfüllten Wohnheimen, oft ausgebeutet von zynischen Vermietern. Eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass sie nur Arbeit in den untersten Lohngruppen fanden.
Anwerbestopp und Rückkehrprämie
Zehn Jahre nach der Ankunft von Armando Rodrigues lebten schon vier Millionen Gastarbeiter in der Bundesrepublik. Neben Italienern, Spaniern, Portugiesen, Griechen und Jugoslawen nun vor allem Türken. Die Zeiten wurden härter. Die Folgen der Ölkrise brachten ungewohnte Arbeitslosenzahlen, die Montanindustrie schrumpfte. Es fielen genau die Jobs weg, in denen die Gastarbeiter ihr Geld verdient hatten. Das Klima wurde rauer zwischen den nun um Arbeit konkurrierenden Deutschen und Ausländern. Man wollte den Familiennachzug einschränken, es gab einen Anwerbestopp, Rückkehrprämien sollten die Ausländer dazu bewegen, Deutschland zu verlassen. Damals schrieb Heinrich Böll: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“ Es waren oft Familien mit großen Problemen: Es fehlte – vor allem bei den Frauen, die isolierter lebten als die Männer – an Deutschkenntnissen, viele kamen vom Land, das Leben in einer durchgetakteten Industriegesellschaft fiel ihnen schwer. Die Kinder waren oft bei den Großeltern im Heimatland geblieben, damit beide Eltern arbeiten konnten und hatten große Schwierigkeiten, wenn sie später nachgeholt wurden.
Fremd im Heimatland
Die meisten Gastarbeiter, die man inzwischen politisch korrekt „ausländische Mitbürger“ nannte, aber blieben, auch wenn die Arbeitslosenquote bei den Gastarbeitern bald deutlich höher war als bei den deutschen Kollegen. Ihre Kinder gingen inzwischen in Deutschland zur Schule, in ihren Heimatländern waren sie fremd geworden, dazu kam politische Unsicherheit in vielen der einstigen Anwerbeländer. Viele Gastarbeiter dieser ersten Generation machten sich selbständig, eröffneten kleine Restaurants, Eisdielen, Lebensmittelläden. Das Land wurde bunter, die Speisekarten auch.
Erfolgsmodell Integration
Und heute? Alles in allem scheint die Integration ein Erfolgsmodell geworden zu sein. Doch es hat lange gedauert. Aydan Özoguz, als Staatsministerin Beauftragte der Bundesregierung für Migration und stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD verschweigt das nicht: „Es hat Jahrzehnte gedauert, bis in allen Köpfen aus den ‚Gastarbeitern‘ Nachbarn, Freunde oder einfach nur Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft wurden.“
7,6 Millionen Ausländer ohne deutschen Pass leben hier, neben einstigen Gastarbeitern politische Flüchtlinge, Armutsflüchtlinge und EU-Bürger aus praktisch allen der 27 EU-Staaten. Zu diesen etwa 7,6 Millionen kommen noch all jene, die längst deutsche Staatsbürger sind und deshalb in keiner „Ausländer-Statistik“ mehr auftauchen. Nur noch ihre Namen erinnern an eine Herkunft, die den Deutschen in den 60er Jahren exotisch erschien.
Multikulti mit Problemen
Natürlich gibt es Probleme. Es gibt die Parallel-Gesellschaften, die islamistischen Milieus, in großen Städten wie Berlin und in den vom Strukturwandel gebeutelten Regionen wie etwa im Ruhrgebiet. Zu viele junge Leute sind Bildungsverweigerer, haben den Anschluss an die Wissensgesellschaft verpasst. Es gibt unter den einstigen Gastarbeitern mehr Altersarmut als bei den Deutschen, weil die Renten der einstigen Niedriglöhner häufig zum Leben kaum reichen.
Doch alles in allem herrscht Normalität im multikulturellen Alltag: Parteichef der Grünen ist Cem Özdemir, dessen Eltern als Gastarbeiter nach Schwaben kamen. In Brüssel heißt der deutsche EU-Botschafter Guido Peruzzo, ein promovierter Jurist, dessen Vater als Gleisarbeiter aus Italien kam. Einer der interessantesten deutschen Filmemacher ist Fatih Akin, Feridun Zaimoglu ist ein deutscher Schriftsteller mit türkischem Namen. Für eine ganze Generation von Kindern ist der deutsche Fußballer Mesut Özil ein Vorbild.
Also alles in Ordnung? Trotz aller Erfolgsgeschichten noch lange nicht. Die Vorurteile sind noch da. Das zeigt gerade der NSU-Prozess. Die Leichtfertigkeit, mit der von Döner-Morden gesprochen wurde, beschämt, ebenso wie der Umgang mit den trauernden Familien der ermordeten Männer.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.