Geschichte

Vor 50 Jahren: Bewegung gegen Abtreibungsparagraphen formiert sich

Der Paragraph 218 im Strafgesetzbuch stellt Abtreibung unter Strafe. Dagegen regt sich immer wieder Kritik. Dabei geht der Kampf für eine liberalere Praxis schon viele Jahre, erzählt Inge Wettig-Danielmeier.
von Inge Wettig-Danielmeier · 7. Juni 2021
Schon 1971 regt sich großer Protest gegen den Abtreibungsparagraphen 218 im Strafgesetzbuch.
Schon 1971 regt sich großer Protest gegen den Abtreibungsparagraphen 218 im Strafgesetzbuch.

Der Stern vom 6. Juni 1971 wirkte wie ein Donnerschlag. In dem von Alice Schwarzer initiierten und verfassten Artikel bekannten 374 Frauen: „Wir haben abgetrieben“. Sie bekannten sich unmissverständlich zu einer nach Paragraph 218 StGB mit hoher Strafe bedrohten Handlung. Der Aufmacher des Heftes war geschickt gestaltet. Der sofortige Verkaufserfolg ließ nicht auf sich warten, bald war das Heft vergriffen. Nun war abzuwarten, ob den Bekenntnissen staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und nachfolgend Anklagen folgen würden. Ermittlungen gab es, doch keine Anklagen. Mehr als Aktenzeichen soll es nicht gegeben haben.

Erstmals Mehrheit für Reform des Paragraphen 218

Der Zeitpunkt für den Stern-Artikel war klug gewählt, denn zum ersten Mal seit dem Beschluss über das Strafgesetzbuch 1871 gab es im nationalen Parlament eine Mehrheit für eine Reform. Der Paragraph 218, der den Schwangerschaftsabbruch unter Straße stellte, war von Anfang an bekämpft worden. Im Kaiserreich bestand für eine Änderung keine Chance, auch nicht in der Weimarer Republik, obwohl sich eine breite gesellschaftliche Bewegung für eine Reform engagierte. In der Nazi-Zeit wurde der Paragraph 218 sogar verschärft und die Rechtsprechung verfolgte Verstöße streng. Solange die CDU/CSU die Regierung stellte, existierte keine Chance für eine Reform, dafür sorgte die enge Bindung der Union an die katholische Kirche, die jede Lockerung des Strafrechts ablehnte.

Mit Bildung der sozialliberalen Koalition 1969 aus SPD und FDP bestand erstmals nach fast 100 Jahren eine Reformchance. Obwohl die Sozialliberalen zahlreiche Rechtsreformen auf den Weg brachten, den illiberalen Geist aus zahlreichen Gesetzen vertrieben, zögerte die Koalition beim Paragraphen 218. Innerhalb der Regierung überwog die Tendenz zu einer Indikationslösung, die den Abbruch einer unerwünschten Schwangerschaft von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig machte, sogar von einer Pflichtberatung und ärztlichen Prüfung. Dagegen stand die Fristenlösung, die innerhalb eines festgelegten Zeitraums die Entscheidung der Schwangeren überließ.

Initiativantrag auf SPD-Parteitag

Der Stern-Artikel mobilisierte für die Fristenlösung. Hunderte von Initiativen bildeten sich, auf Plätzen und in tausenden von Veranstaltungen wurden Unterschriften für die Fristenlösung gesammelt. Auch ich sammelte einige tausend Unterschriften in meiner Heimatstadt Göttingen. Die unerwartete breite gesellschaftliche Bewegung setzte die zögernde Bundesregierung unter Druck.

Einen überraschenden Durchbruch gab es am 20. November 1971 auf einem außerordentlichen SPD-Parteitag in Bonn, als mit einem Initiativantrag die Fristenlösung zur Abstimmung gestellt wurde. Die SPD-Mitglieder der Bundesregierung sprachen sich gegen die Fristenlösung aus, doch Frauenpower erzwang eine Mehrheit. Die Delegierte Herta Däubler-Gmelin trug dazu mit einer bemerkenswerten Rede bei. Sie erklärte ohne Wenn und Aber: „Niemand kann … der Frau selbst die Verantwortung der Entscheidung abnehmen.“ Von den 337 Delegierten stimmten 306 für den Antrag, bei 16 Gegenstimmen und 15 Enthaltungen.

Reform vom Bundesverfassungsgericht kassiert

Am 9. März 1972 wurde der Paragraph 218 reformiert und die Fristenlösung von der sozialliberalen Koalition beschlossen. Angewandt wurde das neue Recht jedoch nicht, da die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die bayerische Staatsregierung eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben, das sofort mit einer einstweiligen Anordnung das Gesetz stoppte. Im späteren Urteil wurde der Weg zu einer engen Indikationsregelung eröffnet. Der Kampf für eine liberale Lösung des Schwangerschaftsabbruchs schien damit erledigt zu sein.

1990 bot sich durch den Vertrag über die Deutsche Einheit eine erneute Chance zur Reform des Paragraphen 218, da das bundesdeutsche Recht nicht auf die DDR ausgedehnt wurde, wo bisher die Fristenlösung galt. In mühsamen Verhandlungen konnte ein Gruppenantrag zur Abstimmung gestellt werden, der erneut eine Fristenlösung vorsah. Für die SPD hatte ich die Federführung mit Hans de With. Wir erreichten, dass die SPD fast geschlossen zustimmte, die FDP scherte aus der Koalition mit der CDU/CSU aus und stimmte ebenfalls zu, auch die PDS und die Grünen unterstützten den Antrag. Innerhalb der CDU/CSU fand Rita Süssmuth zwei Dutzend Unterstützer*innen, sodass wir mit einer guten Mehrheit 1992 den Paragraphen 218 veränderten.

Kampf noch nicht beendet

Doch erneut landete die Reform vor dem Bundesverfassungsgericht, wiederum angegriffen von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der bayerischen Staatsregierung. Dieses Mal zögerte das Bundesverfassungsgericht mit einer totalen Zurückweisung der Reform. Nicht unbeeindruckt von den Protesten und von einer langwierigen mündlichen Verhandlung schränkte das Urteil die Fristenlösung zwar ein, doch eine Rückkehr zur Indikationslösung verlangte es nicht.

Der nächste Anlauf fand 1994 eine breite Mehrheit im Bundestag, weil auch Teile der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zustimmten. Die katholische Kirche blieb bei ihrer Ablehnung, verzichtete offensichtlich auf eine Aufforderung an die CDU/CSU, Klage zu erheben. Seit 1994 könnte bei diesem Jahrhundertthema Rechtsfrieden herrschen, wenn die Attacken der Lebensschützer*innen nicht wären, die gegen Ärzt*innen und Kliniken vorgehen und dabei Unterstützung bei Gerichten gefunden haben, die den Paragraphen 219a fehlerhaft auslegen. Der Kampf für eine liberale Praxis des Schwangerschaftsabbruchs ist deswegen immer noch nicht beendet.

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