Geschichte

Vor 110 Jahren wird die SPD erstmals stärkste Fraktion im Reichstag

Bei der Reichstagswahl im Januar 1912 errang die SPD erstmals die Mehrheit der Mandate. Die SPD überwand damit ihr Trauma der velorenen Wahl von 1907. Eine neu gewonnene Leitungsfunktion konnten sie jedoch nicht ausüben.
von Klaus Wettig · 23. Januar 2022
Vorwärts-Titelseite vom 26. Januar 1912: Die „110!“ gibt die Anzahl der errungenen Mandate der SPD bei der Reichstagswahl an.
Vorwärts-Titelseite vom 26. Januar 1912: Die „110!“ gibt die Anzahl der errungenen Mandate der SPD bei der Reichstagswahl an.

Ob am späten Abend des 25. Januar 1912 der SPD-Parteivorstand in dem kleinen Parteisitz in der Katzbachstraße in Berlin-Kreuzberg die Sektkorken knallen ließ, wissen wir nicht – die neue Parteizentrale in der Lindenstraße war noch im Bau. Es war ein außerordentlicher Wahlsieg zu feiern an diesem Donnerstag, den die eintreffenden Telegramme zunehmend bestätigten. Andere Informationsmittel gab es nicht, erst am frühen Morgen des 26. Januar bestätigte das Wolffsche Telegraphenbureau den überwältigenden Erfolg der Sozialdemokraten bei der Reichstagswahl. Ein reales Comeback nach der Wahlniederlage von 1907 hatte stattgefunden.

Fünf Jahre auf den Wahlsieg hingearbeitet

Gefeiert haben sie sicherlich, wenn auch mit einem aus den Kreuzberger Kneipen oder der nahen Schultheiß-Brauerei geholten Bier. In den damals erst gegen Mittag erscheinenden Morgenzeitungen lasen sie dann von ihrem Sieg, der die bisherige Reichstagsmehrheit zerstört hatte. Sämtliche Zeitungen des Reiches meldeten den sozialdemokratischen Mandatsgewinn im Aufmacher, auch international wurde das Wahlergebnis mit Erstaunen registriert, denn es konnte als Niederlage der expansiven, friedensbedrohenden Politik von Wilhelm II. und seinem neuen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg gedeutet werden. Die deutschen Kommentare waren durchwachsen: Jubel in der SPD-Presse (der „Vorwärts“ titelte mit der Zahl der errrungenen Mandate „110!“), verhaltene Hoffnung auf eine neue Mehrheit in den liberalen Medien, Furcht und Aufruf zum Kampf bei den Konservativen.

Die SPD hatte fünf Jahre auf dieses Ergebnis hingearbeitet, nachdem sie 1907 bei der Reichstagswahl wegen ihrer Antikolonialpolitik eine schwere Niederlage erlitten hatte. Getreu ihrer antikolonialen Einstellung hatte sie die Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigert, die die Niederschlagung der Aufstände der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialverwaltung in Südwestafrika finanzieren sollten. Gemeinsam mit der SPD widersprach nur die katholische Zentrumspartei dieser Politik, für die der Reichskanzler Bernhard von Bülow unter nationalistischen Vorzeichen eine Koalition aus Konservativen und Liberalen schmieden konnte. Der „Bülow-Block“ aus den lange verfeindeten Parteien schaffte ein hervorragendes Wahlergebnis, die SPD verlor die Hälfte ihrer 79 Mandate. In zahlreichen Stichwahlen unterlagen die SPD-Kandidaten dem Bülow-Block. Das Zentrum behauptete sich aufgrund der Treue ihrer katholischen Anhängerschaft.

Die SPD überwindet ihr Trauma

Die seitdem als „Hottentotten-Wahl“ bezeichnete Reichstagswahl vom 1907 hinterließ ein Trauma bei der SPD. Seit der Rückkehr aus der Illegalität nach dem Fall des Sozialistengesetzes waren die Stimmen für die SPD von Wahl zu Wahl gewachsen, obwohl die Größe der Wahlkreise und das Stichwahlsystem sie benachteiligte. Häufig stand der SPD-Kandidat allein in der Stichwahl gegen die Absprachen für einen bürgerlichen Kandidaten. Unterstützung gab es nur bei den ebenfalls als „Reichsfeinde“ angesehenen Parteien, von den Polen, Dänen, Welfen und Elsässern, auch von den Linksliberalen, sehr selten vom Zentrum. Hier blockierte die Kirchenfeindschaft der SPD Stichwahlabsprachen. Auch 1907 verzeichnete die SPD einen Zugewinn an Stimmen, der sich in den Stichwahlen aber nicht in Mandate umsetzen ließ.

Trotz ihrer zahlreichen innerparteilichen Probleme bereitete die SPD die für 1912 angesetzte Reichstagswahl sorgfältig vor. Weder der Revisionismus-Streit noch die Massenstreikdebatte, noch die strategischen Differenzen mit den erstarkenden sozialdemokratischen Gewerkschaften verhinderten die zielgerichtete Vorbereitung auf 1912. Als günstig erwies sich das Bröckeln des Bülow-Blocks, der die Erwartungen des Reichskanzlers wegen zunehmender Differenzen in Steuerfragen oder über eine liberale Innenpolitik nicht erfüllte. Sein Nachfolger Bethmann Hollweg verstolperte sehr schnell diese Zusammenarbeit. Dagegen bildete sich eine Hoffnungskoalition heraus: „Von Bassermann bis Bebel“– von den Nationalliberalen bis zu den Sozialdemokraten. Eine höchst spekulative Überlegung, doch eine im Reichstag gelegentlich stattfindende Abstimmungsgemeinschaft begünstigte sie.

Absprachen für die Stichwahlen

Eine wichtige Vorarbeit leistete die partielle Zusammenarbeit im Reichstag, ebenso in den süddeutschen Landtagen: Man konnte sich für 1912 Absprachen für die Stichwahlen vorstellen. Die SPD traf auf ihrem Parteitag in Jena 1911 dafür eine wichtige Entscheidung. Sie schloss Absprachen mit den Liberalen nicht mehr aus, sondern knüpfte sie an Bedingungen: Die Liberalen mussten sich verpflichten, Wahlrecht und die demokratischen Freiheiten im Reichstag gegen Umsturzpläne der Regierung zu verteidigen. Die SPD nutzte zudem die Jahre ab 1907 für die Stärkung ihrer Organisation, denn trotz der Niederlage wuchsen ihre Mitgliedszahlen und sie gewann zusätzliche Stärke über den Gewinn von Landtags- und Kommunalmandaten, erstmals 1908 sogar im Preußischen Abgeordnetenhaus.

Schon in der Hauptwahl im Januar 1912 eroberte die SPD 64 Mandate, deutlich mehr als die 43 Mandate von 1907. Sie gelangt in 124 Wahlkreisen in die Stichwahl und gewann weitere 46 Sitze hinzu, sodass sie am Abend des 25. Januar 110 Mandate errungen hatte. Die Stichwahlabkommen mit den Linksliberalen hatten funktioniert, regional auch mit den Nationalliberalen. Ergänzend profitierte die SPD auch von Stimmen der Polen, Elsässer und Welfen.

Neue Möglichkeiten im Reichstag

Dem „Block von Bassermann bis Bebel“ fehlten nur wenige Sitze zur Reichstagsmehrheit, der „Bülow-Block“ von 1907 war zerschlagen, doch eine belastbare Zusammenarbeit entstand nicht, obwohl in Einzelfragen die Wahlkoalition weiterhin wirkte. So stimmten bei der Wahl des Reichstagspräsidenten Nationalliberale für August Bebel, der nur knapp unterlag. Als Vizepräsident wurde Philipp Scheidemann gewählt, der auch nach Rücktritten aus dem Präsidium wiedergewählt wurde. Zum ersten Mal konnte ein Sozialdemokrat eine zentrale Leitungsfunktion übernehmen, doch Scheidemann durfte das Amt nicht nutzen. Das Reichstagspräsidium musste einen Antrittsbesuch beim Kaiser machen und am Ende einer Sitzung schloss der amtierende Präsident die Sitzung mit dem Kaiserhoch. Beides verbot sich für einen Sozialdemokraten, dessen Partei in strikter Ablehnung zum monarchischen System stand und für die Staatsform der Republik kämpfte.

Das Kaiserhoch wäre noch durch geschicktes Wechseln in der Sitzungsleitung zu umgehen gewesen, nicht jedoch der Empfang durch den Kaiser. Als Wilhelm II. erklärte, er empfange nur das gesamte Präsidium oder niemanden, wählte Scheidemann den Rücktritt. Von der neuen Vizepräsentanz der SPD-Reichstagsfraktion in der Sitzungsleitung blieb nur ein Schriftführer.

Die Revisionisten hatten schon früher gefordert, dass man eine solche Einflusspositionen nutzen müsse, sie in dogmatischer Starre nicht verschenken dürfe. Ob mehr Flexibilität tatsächlich nach 1912 den Block „Von Bassermann bis Bebel“ eingeleitet hätte, darüber lässt sich spekulieren. Eine Chance gab es zweifellos. Auch die Annäherung zwischen Sozialdemokraten und Liberalen in der Weimarer Republik und in der zweiten deutschen Republik geschah durch die Überwindung von großen politischen Distanzen.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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