Von Brandt lernen: Wie eine Ostpolitik für 2022 aussehen sollte
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20 Oktober 1971, kurz nach 17 Uhr: Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel unterbricht die laufende Haushaltsdebatte und teilt den Abgeordneten mit, „dass die Nobelpreiskommission des norwegischen Parlaments dem Herrn Bundeskanzler den Friedensnobelpreis verliehen hat.“ Lebhafter Applaus brandet auf. Die Abgeordneten von SPD und FDP erheben sich von ihren Plätzen. Auch einzelne Abgeordnete von CDU und CSU stehen auf.
An diesem 20. Oktober 1971 ist noch kein einziger Vertrag mit den osteuropäischen Nachbarstaaten ratifiziert. Die parlamentarische Mehrheit der sozialliberalen Koalition wird aufgrund von Übertritten zur Opposition immer dünner. Die Lage ist prekär: Am Tag, an dem Willy Brandt den Friedensnobelpreis erhält, kann die gesamte Ostpolitik noch scheitern. Sie ist kein nationaler Konsens. Sie ist hochumstritten.
Rechts-Konservative werfen Brandt Verrat vor
Willy Brandt ist nach Gustav Stresemann (1926), Ludwig Quidde (1927) und Carl von Ossietzky (1935) der vierte Deutsche, der den Friedensnobelpreis erhält. In der Begründung des Nobelpreis-Komitees heißt es, der deutsche Bundeskanzler habe „als Chef der westdeutschen Regierung und im Namen des deutschen Volkes die Hand zu einer Versöhnungspolitik zwischen alten Feindländern ausgestreckt.“ Er habe „im Geiste des guten Willens einen hervorragenden Einsatz geleistet, um Voraussetzungen für den Frieden in Europa zu schaffen.“
Das beeindruckt seine Gegner im rechts-konservativen Lager nicht im Geringsten. Genauso wie zuvor schon den Friedenspolitikern Stresemann, Quidde und Ossietzky werfen sie Brandt Verrat vor. Sie nennen ihn einen „Verzichtspolitiker“, der die deutschen Ostgebiete und die „sogenannte DDR“ preisgäbe, um mit Kommunisten zu kollaborieren. Viele Medien beteiligen sich an dieser Kampagne, greifen Willy Brandt persönlich an und versuchen die Hetzparole von den Sozialdemokraten als den „vaterlandslosen Gesellen“ wieder zu beleben.
Liberale Politiker aus CDU und CSU verzichten auf derartige Verleumdungen und nationalistische Untertöne. Aber auch sie werfen Brandt vor, dass seine Politik die Teilung zementiere und dem nationalen Interesse Deutschlands schade.
Die Ostpolitik als pragmatisches Handeln
Wenn wir heute an den Friedensnobelpreis für Willy Brandt erinnern und an die Auseinandersetzungen über die Ostpolitik, dann tun wir das auch mit dem Ziel, aus seinen Überzeugungen und seinen Erfahrungen für die gegenwärtige und künftige Politik zu lernen.
Was damals wie heute oft übersehen wird: Die Ostpolitik entspringt keiner naiven Friedensschwärmerei. Die Ostpolitik war im besten Sinne des Wortes pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken. Die Ostpolitik war im deutschen und im europäischen Interesse. Sie war eine kluge Reaktion darauf, dass die deutsche und die europäische Teilung nach dem Bau der Mauer im August 1961 und nach dem Einmarsch der Sowjetunion und von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei im August 1968 auf Dauer festgeschrieben schienen. Willy Brandt wollte sich mit diesem Zustand nicht abfinden und er wusste, dass deshalb neues Denken und neues Handeln notwendig war.
Kleine Löcher im Eisernen Vorhang
„Wandel durch Annäherung“ heißt der neue Ansatz. Er beruht auf drei Prämissen:
- Erstens: Wer den Status quo verändern will, muss ihn erst einmal anerkennen. Es gibt zu dieser Zeit zwei deutsche Staaten, auch wenn sie füreinander nicht Ausland sind, wie es in Brandts erster Regierungserklärung heißen wird.
- Zweitens: Die Einheit Deutschlands wird erst dann möglich, wenn ein geeintes Deutschland keine Bedrohung mehr darstellt. Für niemanden. Deshalb braucht Europa eine Friedensordnung, die die Sicherheitsinteressen aller europäischen Länder berücksichtigt, auch die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion. Durch kulturellen Austausch und wirtschaftliche Kooperation, durch Rüstungskontrolle und Abrüstung soll der Kalte Krieg entschärft und perspektivisch überwunden werden.
Die Grenzen in Europa sind „unverletzlich“, lautete die berühmte Formulierung im Moskauer Vertrag. Aber – und das ist der Clou: Sie sind nicht unveränderbar. Die deutsche Einheit in Frieden und Selbstbestimmung bleibt möglich. Bis dahin gilt es, die deutsche Frage offen zu halten. - Die dritte Prämisse lautet: Auch wenn man den Eisernen Vorhang nicht einreißen kann, sollte man dennoch versuchen, durch eine Politik der kleinen Schritte kleine Löcher in ihn hineinzuschneiden.
Die überzeugendste Bestätigung für den langfristigen Erfolg der Ostpolitik ist schließlich das Ende der Teilung Europas und die staatliche Einheit Deutschlands. Sie finden ziemlich genau unter jenen außenpolitischen Rahmenbedingungen statt, die Willy Brandt und Egon Bahr drei Jahrzehnte zuvor skizziert hatten:
- Mit Zustimmung Russlands und der europäischen Nachbarn
- Abgesichert durch die USA
- Eingebettet in eine europäische Friedensordnung,
- flankiert durch deutliche atomare und konventionelle Abrüstung
Eine Ostpolitik für das Jahr 2022
Die wesentlichen Bausteine seiner Außen- und Ostpolitik beschrieb Brandt in seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises wie folgt: „Abbau der Spannungen, Zusammenarbeit der Völker, Reduzierung der Truppen und Kontrolle der Rüstungen, Partnerschaft mit den bisher Benachteiligten, gemeinsamer Schutz gegen die gemeinsame Gefahr des Untergangs – das muss möglich sein, daran müssen wir arbeiten.“ Nichts davon ist alt oder gar veraltet. Alles daran ist aktuell.
Eine Ostpolitik für das Jahr 2022 kann viel von der Brandt’schen Ostpolitik lernen. Schauen wir dazu auf ihren Beginn. Noch bevor Brandt seine Ostpolitik als deutschen Beitrag zur Entspannungspolitik einleitet, sichert er die Basis im Westen. Er überzeugt die Westmächte von seinen Plänen und stärkt den europäischen Zusammenhalt.
Kurz nach dem Machtwechsel 1969 erreicht Brandt auf dem europäischen Gipfel von Den Haag die Zustimmung Frankreichs für die Erweiterung der EWG um Großbritannien, Norwegen, Irland und Dänemark. Mit einem starken und geeinten Westen im Rücken ist schließlich auch die Bundesrepublik stark genug, um mit Moskau echte Verhandlungen mit gegenseitigen Zugeständnissen zu führen.
Auf Augenhöhe mit Russland verhandeln
Genau das muss auch heute unser Weg sein: Die Stärkung Europas. Eine starke und geeinte Europäische Union ist ein erstrebenswertes Ziel an sich. Aber: Eine mit einer Stimme sprechende EU vereint eben auch jene außenpolitische Gravitas, um mit Russland auf Augenhöhe die derzeitigen Bedrohungen der europäischen Sicherheit zu diskutieren und zu verhandeln.
Dieser verbindliche Austausch ist nötiger denn je, um die Sicherheit wieder friedlicher und den Frieden wieder sicherer zu machen. Die dieser Tage stattfindenden direkten Gespräche zwischen den Präsidenten der USA und Russland sind daher ebenso zu begrüßen wie die vorausgegangene, enge Koordinierung mehrerer europäischer Staaten untereinander und mit den USA.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Gespräche nur die ersten von vielen weiteren Gesprächen sind. Wir brauchen dringend einen neuen Anlauf für Rüstungskontrolle und Abrüstung. Diese Bestrebungen sind heute genauso wenig Ausfluss von Friedensschwärmerei wie damals, sondern dienen ganz konkret der Vertrauensbildung als einem gemeinsamen sicherheitspolitischen Interesse.
Damals wie heute gilt: Ein Mindestmaß an Vertrauen ist eine notwendige Bedingung für Rüstungskontrolle und Abrüstung. Und damals wie heute gelten weiterhin die Prinzipien der Schlussakte von Helsinki von 1975: die friedliche und gewaltlose Regelung von Streitfällen, die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die territoriale Integrität aller Teilnehmerstaaten, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und die Unverletztlichkeit bestehender Grenzen. Das muss Russland akzeptieren, auch wenn es in der Ukraine und anderswo mehrfach gegen diese Prinzipien verstoßen hat.
Welche Ansätze der Koalitionsvertrag bietet
Im Gegenzug reichen wir die Hand zu Kooperation und Abrüstung, zu Entspannung, Partnerschaft und Frieden. Diese Prinzipien haben auch in den Koalitionsvertrag Einzug gefunden:
- Eine gemeinsame, kohärente EU-Politik gegenüber Russland als Grundlage für einen offenen, konstruktiven, von Prinzipien getragenen Dialog.
- Neue Impulse für eine komplette Abrüstung im substrategischen Bereich.
- Die Achtung unterschiedlicher Bedrohungsperzeptionen und der Interessen unserer Partner in Mittel- und Osteuropa wie Polen, den baltischen Staaten und der Ukraine.
- Eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland bei Zukunftsthemen wie Wasserstoff, Gesundheit und bei der Bewältigung globaler Herausforderung
- Aber eben auch die Schaffung für einen visafreien Reiseverkehr zwischen Russland und Deutschland, speziell für junge Menschen – diese ganz konkrete Ebene der Völkerverständigung wird zu oft vergessen.
Willy Brandt hat in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises am 11. Dezember genau formuliert, worum es auch heute wieder geht. „Gemeinsame Lösungen heißt Bindungen und Verbindungen schaffen durch sinnvolle Kooperationen der Staaten über die die Grenzen der Blöcke hinweg. Dies heißt Transformation des Konflikts. Dies heißt, wirkliche oder eingebildete Barrieren abzutragen bei gegenseitigem friedlichem Risiko. Das heißt, Vertrauen schaffen durch praktisch funktionierende Regelungen. Und dieses Vertrauen mag dann die neue Basis werden, auf der alte, ungelöste Probleme lösbar werden. Diese Chance zu nutzen, kann die Chance Europas sein in einer Welt, in der erwiesen ist, dass sie nicht allen von Washington, von Moskau – oder von Peking – regiert werden kann.“
Wenn wir heute Willy Brandt ehren, dann tun wir das als Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen am besten dadurch, dass wir uns von seinem Mut anstecken lassen, gegen alle Widerstände, aber mit guten Argumenten und großem Engagement und der nötigen Portion Pragmatismus für Frieden und Verständigung zu kämpfen.
Der Text beruht auf einer Rede, die Norbert Walter-Borjans am 8. Dezember bei der Veranstaltung „Friedenspolitik in unserer Zeit“ der Friedrich-Ebert-Stiftung anlässlich des 50. Jahrestags der Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt gehalten hat.