Newsletter
Geschichte

Ungeliebte Vergangenheit

von Dorle Gelbhaar · 03. November 2011
placeholder

Der Erzählfluss plätschert dahin. Es ist, wie es ist. Was war, das war. Nichts von dem Gewesenen können wir ungeschehen machen. Wir müssen uns mit dem Leben arrangieren. Das jedenfalls scheint die Sicht der Dinge der pragmatischen Sanne zu sein. Sie ist die Ich-Erzählerin des Romans "Roter Milan". An ihr reibt sich ihre exzentrische Gegenspielerin Karin. Die wird von der Vergangenheit eingeholt: Der allseits bejubelte Fall der Mauer bedeutet für sie die Konfrontation mit ihrer DDR-Vergangenheit, die sie längst mehr oder minder erfolgreich verdrängt hatte.

Bauernkind trifft Umsiedlerkind

Die Vergangenheit der beiden Frauen ist in weiten Teilen eine gemeinsame. Sie sind Freundinnen seit Kindertagen. Beide haben als Mädchen nach 1945 in einem Dorf im Brandenburgischen gelebt. Die eine, die eigenwillige Karin, als Bauernkind im Haus der elterlichen Familie. Die andere als Umsiedlerkind mit Mutter und Vater im Haus von Verwandten.

Man könnte meinen, das Bauernkind habe es einfacher gehabt. Doch Karin plagt sich mit den Fragen nach ihrem wirklichen Vater ebenso mit der Tatsache, dass sie nicht recht zu den anderen passt. Sie kann und will sich nicht anpassen. Jahre später, Karin lebt längst in West-Berlin, erinnert jeder Besuch bei der Mutter im heimischen Dorf, jenseits der Mauer, sie erneut mit den anderen Lebensmustern ihrer Verwandten und Bekannten.

Mauerfall bringt Freude und Unbehagen

Karin artikuliert Unbehagen, als rundherum sonst nur Freude über den Mauerfall geäußert wird. Sie erntet Unverständnis dafür - von Sanne. Und vom Leser. Der erfährt erst über eingeschobene Texte aus Karins Tagebuch warum sie eine Mauer aus Ignoranz und Vorurteilen um sich baute. Allerdings reflektiert sie auch, wie Nationalismus Auftrieb erhält und das ist gewiss kein Vorurteil.

Ihre Erfahrungen damit, wie in der DDR auf ihre jugendliche Aufmüpfigkeit reagiert wurde haben sie geprägt. Sie bedenkt nicht, dass sie zu den Letzten gehörte, die noch die Wahl hatten, auf welcher Seite der Mauer sie leben wollten. Und doch quält sie sich mit der eigenen Sicht, stellt sich selbst in Frage. So haben Leser ebenfalls die Chance, Vorurteile als solche zu entlarven und der Selbstzufriedenheit zu entgehen.

Die eigenen Vergangenheit mibringen

Karin sucht das Gespräch mit Sanne, stirbt allerdings bevor diese den angebotenen Gesprächsfaden aufnehmen kann. Sie waren immer Freundinnen, aber der Alltag mit seinen beruflichen und familiären Zwängen und Konflikten hat sie nach dem jeweiligen Weggang aus der DDR nur selten zusammenkommen lassen. Die kinderlose Karin hat als Politologin in West-Berlin gelebt, Sanne in Luxemburg. Nach einem von Karin offensichtlich gewollten Unfall begegneten sich die beiden im Krankenhaus wieder.

Im Buch kann der Dialog der beiden nicht weitergeführt werden. In der Realität bleiben die Fragen stehen und laden ein zum Disput. Inwieweit ist man sich dessen bewusst, dass man Rechte und Privilegien nicht nur sich selbst verdankt? Muss man die Vergangenheit immer mit sich herumtragen? Ist das hilfreich? Überheblichkeit und Arroganz sind oft nur äußere Schale, hinter der sich die eigene Hilflosigkeit und Angst verbergen. Wie dem entkommen und verhindern, dass die Schale sich gegen das Innere kehrt?

Karin hat ihre Insel West-Berlin geliebt. Eine Insel aber bedarf des Abgeschnittenseins, um sich ihren Insel-Charakter zu erhalten. Manchmal hilft es davonzulaufen, um die eigene Insel zu bewahren. Nur sich selbst nimmt man immer mit. Karin stirbt in Israel, wo sie am Ende gemeinsam mit ihrem Partner in einem Waisenhaus für palästinensische und auch israelische Kinder gearbeitet hat. Mag sein, auch das ein Zeichen setzt, zum Weiterdenken darüber, wie die Brücken zwischen den verschiedenen Inseln zu bauen sind. Der Rote Milan steht für ein nicht eingeengtes Leben und er schwebt nicht nur über Brandenburg.

Marianne Suhr "Roter Milan", edition ebersbach, Berlin 2010, 255 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-86915-026-0

Schlagwörter
Autor*in
Dorle Gelbhaar

ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.

Noch keine Kommentare
Schreibe ein Kommentar

Restricted HTML

  • Allowed HTML tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Lines and paragraphs break automatically.
  • Web page addresses and email addresses turn into links automatically.