Geschichte

Unabhängigkeit der Ukraine: Welche Rolle die Sozialdemokratie dabei spielte

In der Geschichte der Ukraine spielten Sozialdemokrat*innen eine entscheidende Rolle – besonders im Kampf um die Unabhängigkeit des Landes. Auch die Kontakte zur SPD waren zeitweise sehr eng.

von Stefan Müller · 3. September 2024
Stolze Nation: Auf dem Weg in die Unabhängigkeit der Ukraine spielten Sozialdemokrat*innen eine entscheidende Rolle.

Stolze Nation: Auf dem Weg in die Unabhängigkeit der Ukraine spielten Sozialdemokrat*innen eine entscheidende Rolle.

Die moderne Unabhängigkeitsbewegung in den ukrainischen Gebieten des Russischen Reiches und der Habsburgermonarchie beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihren Ursprung hatte sie in der Kyrill-und-Method-Bruderschaft der Jahre 1845 bis 1847. Eine Gruppe Intellektueller, unter ihnen der Nationaldichter Taras Schewtschenko (1814–1861), strebte die Liberalisierung des Zarenreiches und die politische Dezentralisierung des Imperiums im Sinne einer Konföderation der slawischen Nationen an.

Ende der 1850er-Jahre nahmen junge Intellektuelle den Faden der aufgrund von Verhaftungen nur kurzlebigen Bruderschaft wieder auf. In den (gleichfalls illegalen) Gruppen der Hromada (Gemeinschaft) pflegten sie die ukrainische Sprache und Kultur, nahmen Untersuchungen zur ukrainischen Geschichte vor und organisierten Bildungsangebote für die bäuerliche Bevölkerung. Auch diese Geheimgesellschaften existierten zumeist nur kurz. Die Besonderheit der ukrainischen Nationalbewegung war, und dies unterscheidet sie von den Bewegungen in Westeuropa, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts Sozialist*innen und Sozialdemokrat*innen zu den Wortführer*innen wurden.

Immunisierung gegen die russischen Bolschewiki

Zu ihnen zählten Michajlo Drahomanow (1841–1895), Lessja Ukrajinka (1871–1913) und Iwan Franko (1856–1916), um nur drei zu nennen. Der Historiker Drahomanov lehrte Alte Geschichte an der Kyjiwer Universität, wurde aufgrund seiner Beteiligung an der Hromada entlassen und siedelte 1876 nach Genf über, um im Exil die ukrainische Bewegung zu repräsentieren. Drahomanow kommt aufgrund seiner regen Publikationstätigkeit eine enorme Bedeutung für die ukrainische sozialistische Bewegung und für das Nationalbewusstsein zu.

Mit seinen anarchistisch-föderalistischen Vorstellungen verankerte er demokratische Prinzipien in der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung und immunisierte damit auch den ukrainischen Sozialismus vor den zentralistischen und autoritären Dogmen der russischen Bolschewiki. In Genf bildete Drahomanow mit anderen Exilanten die Keimzelle der ukrainischen sozialistischen Bewegung.

Die Ukrainische Volksrepublik

Ende des 19. Jahrhunderts handelte es sich bei den ukrainischen sozialdemokratischen Organisationen in Österreich-Ungarn und im Russischen Reich noch um kleine, im Osten sogar illegale Parteien, die von Literat*innen, Künstler*innen und Intellektuellen geführt wurden. Diese verliehen mit ihren sozialistischen und demokratischen Vorstellungen der ukrainischen Nationalbewegung ihre Prägung. Mit der Revolution im Russischen Reich 1917 wurden die Nationalbewegung und die sozialistische Bewegung zu Massenbewegungen. Aufgrund der spezifischen Gesellschaftsstruktur waren die nationale und die soziale Frage in der Ukraine unmittelbar miteinander verbunden.

Die ländliche Bevölkerung im Gebiet der heutigen Ukraine bestand fast ausschließlich aus Ukrainer*innen, während die städtischen Mittel- und Oberschichten überwiegend russisch oder polnisch geprägt waren; 1919 bestand beispielsweise die Bevölkerung in Kyjiw nur zu 23 Prozent aus Ukrainer*innen. Die ukrainische Arbeiter*innenklasse war marginal. Hinzu kamen noch Jüdinnen und Juden, die als Arbeiter*innen und Händler*innen in der Stadt und auf dem Land lebten und nur selten über das Leben einer Mittelschichtsfamilie hinauskamen.

Radikalisierung während des Ersten Weltkriegs

In der Revolution von 1917 forderten die von Russland kolonisierten Völker ein höheres Maß an Autonomie. In Kyjiw bildete sich ein Revolutionsparlament, die Zentralna Rada. In ihr kamen Vertreter*innen der großen sozialistischen Parteien, der nationalen Minderheiten, von Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Organisationen sowie lokalen Verwaltungen zusammen. Ihr Ziel war die Autonomie in einem demokratischen und föderalisierten Russländischen Reich. Von Beginn an stießen diese Bestrebungen auf Ablehnung der russischen Parteien – gleich ob es sich um Liberale, Sozialdemokrat*innen oder die Bolschewiki handelte. Die Drohungen und militärischen Angriffe aus Petrograd führten schließlich zu einer Radikalisierung in der Ukraine, die 1918 ihre staatliche Unabhängigkeit erklärte.

Die stärkste ukrainische Partei waren die Sozialrevolutionär*innen, die ähnlich der russischen Partei  einen bäuerlichen Sozialismus anstrebten. Ihre soziale Basis war die Landbevölkerung und damit die ukrainische Bevölkerungsmehrheit. Gemeinsam teilten sie sich die Leitung der Revolution mit den Sozialdemokrat*innen, die aufgrund ihrer häufig größeren politischen Erfahrung beim Führungspersonal der Revolution überproportional vertreten waren.

Radikal, aber demokratisch

Die politischen und sozialen Vorhaben der Volksrepublik waren radikal, aber demokratisch: Die Aufteilung des Landes unter den Bäuer*innen stand oben auf der Tagesordnung, wobei Ideen einer umfassenden Vergesellschaftung den Vorschlägen einer Landaufteilung gegenüberstanden; die Unternehmen sollten von Eigentümer*innen und Arbeiter*innen in einem korporatistischen Modell gemeinsam verwaltet werden; den nationalen Minderheiten, insbesondere den Jüdinnen und Juden, wurden umfassende Rechte zugestanden.

In dem mit der bolschewistischen Diktatur einsetzenden Bürgerkrieg (ab Ende 1917) und wegen der Intervention deutscher, polnischer und französischer Truppen in der Ukraine konnten jedoch nur wenige Sozialreformen umgesetzt werden. Das Land befand sich im Chaos. Während dieser umfassenden Auflösung gesellschaftlicher Strukturen kam es auf allen Seiten zu einer Vielzahl schwerer Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung. 

Deutsch-ukrainische Kontakte in der Sozialdemokratie

Viele der führenden Sozialist*innen und Sozialdemokrat*innen gingen nach der Niederlage der Volksrepublik ins Exil. Berlin, Wien und Prag wurden deren Zentren. Viele der Exilukrainer*innen überstanden die Eroberung durch die deutsche Wehrmacht in der inneren Emigration. Mit dem Vorrücken der Roten Armee flüchteten die meisten von ihnen jedoch weiter nach Westen. In Deutschland wurden München, Augsburg und Regensburg die neuen geografischen Schwerpunkte des Exils. Dort trafen sie auf Vertreter*innen des zweiten Exils, also jenen, die sich zumeist aufgrund ihres Alters erst in den 1930er-Jahren in die Opposition begeben hatten. Hier dominierten zunächst die Ultranationalist*innen, aber bereits im Krieg hatte sich auch dort ein starker sozialistischer und demokratischer Flügel herausgebildet.

In den 1950er-Jahren waren ukrainische Sozialdemokrat*innen regelmäßig zu Gast auf Parteitagen der SPD und suchten Gemeinsamkeiten. Etwa um 1970 wurden die Kontakte zwischen deutschen und ukrainischen Sozialdemokrat*innen loser. Zum einen spielte die Zersplitterung des Exils und ihre immer älter werdenden Protagonist*innen eine Rolle. Zum anderen spielte die Verfestigung der Blocksituation seit dem Mauerbau 1961 eine Rolle. An einen revolutionären Umsturz im Osten Europas glaubte kaum jemand mehr und die SPD suchte mit der Neuen Ostpolitik nach einem Weg, damit umzugehen. 

Ukrainische Unabhängigkeit 1991

Seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 konnte sich in der Ukraine noch keine sozialdemokratische Partei wieder herausbilden oder gar etablieren. Die ukrainischen Parteien sind nach wie vor Gebilde, die um Einzelpersonen herum organisiert und vielfach von diesen auch finanziert werden. Die ist ein sowjetisches Erbe, das in der Ukraine stärker wirkt als in den früheren sowjetischen Satellitenstaaten. Zugleich existiert eine lebendige Zivilgesellschaft, zu der auch die sozialdemokratische NGO „SD Plattform“ oder die linkssozialistische „Sozialnyj Rukh“ (Soziale Bewegung) gehören. Sie werden eine wichtige Rolle spielen, wie sich die Ukraine nach Ende des Kriegs entwickeln wird.

Dieser Text ist eine gekürzte Version der Veröffentlichung „Geschichte der ukrainischen Sozialdemokratie“ (ISBN 978-3-98628-499-2), die in der Reihe „FEShistory Impuls“ des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung erscheint.

Autor*in
Stefan Müller

ist Historiker im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seine Schwerpunkte liegen in der Geschichte der Arbeitswelt und der Gewerkschaften.

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1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Mi., 04.09.2024 - 16:51

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Nun ist Michajlo Drahomanow (1841–1895) lange vor der Entstehung der Sozialdemokratie in Russland und ihrer Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki gestorben - wie kann er dann Vorkämpfer gegen den Boschewismus gewesen sein ?
Der mir bisher bekannte ukrainische jüdische und deutschsprachige Ukrainer war Karol Sobelsohn aus Lemberg (er war sogar SPD MItglied) wird nicht erwähnt.
Positiv an diesem Beitrag ist, daß der Antisemit Petljura nicht zum sozialdemokratischen Ukrainer ernannt wurde, wie ich das schon aus mehreren Publikationen kenne.