Ukrainekonflikt: Passt Brandts Entspannungspolitik zu Putins Russland?
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Seit Jahren halten die Spannungen Russlands mit seinen Nachbarn und dem Westen an. In den letzten Monaten wuchsen sie noch durch den Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze und die ultimative Forderung Moskaus nach Sicherheitsgarantien der NATO und der Vereinigten Staaten. In Deutschland wird auf der Suche nach einer angemessenen Reaktion immer wieder auf Willy Brandts Ost- und Entspannungspolitik als Lösungsansatz verwiesen, dessen man sich erinnern sollte und aus dem man lernen sollte.
Was genau gelernt werden soll ist in Deutschland umstritten. Die eine Seite hat großes Verständnis für Russlands Sorge um seine Sicherheit. Der Westen möge auf Moskau zugehen, statt das Land mit Sanktionen zu überziehen. Die historische Verantwortung verpflichte Deutschland zu besonderer Rücksicht gegenüber Russland, Moskau und Berlin sollten sich zur Lösung der Konflikte auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen. Andere Stimmen wollen nicht über die Regierungen der Ukraine und der anderen Anrainer Russlands hinweg vorgehen, denn diese Länder waren ja ebenfalls Opfer des deutschen Vernichtungskriegs. Differenzen gibt es auch darüber, ob Gespräche mit Putin noch Sinn machen oder Stärke gezeigt werden solle.
Tschechoslowakei 1968 – Ukraine 2022?
Gibt es in der Geschichte der Brandt’schen Ost und Entspannungspolitik einen Bezugspunkt, der Ähnlichkeiten zur heutigen Situation aufweist? Am ehesten kommt hier die Lage nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Rote Armee und andere Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 infrage. 46 Jahre später besetzte Putins Russland die Krim direkt und Teile des Donbass‘ indirekt durch verbündete Milizen. Parallelen scheinen sich aufzudrängen. Aber es gibt auch erhebliche Unterschiede zwischen beiden Vorgängen. 1968 war das Ziel, den Versuch einer Demokratisierung des kommunistischen Regimes in Prag zu unterbinden. Bei der Besetzung der Krim ging es um geostrategische Fragen. Dennoch lohnt ein näherer Blick auf die Reaktion von Willy Brandt nach dem Einmarsch in Prag 1968.
Damals war Willy Brandt bekanntlich Außenminister. Das Amt hatte er Ende 1966 übernommen, als die Große Koalition – die damals tatsächlich noch eine große war – erstmals gebildet wurde. Eines der Ziele von Brandt war, die bundesdeutsche Außenpolitik wieder in Übereinstimmung mit den Außenpolitiken der Verbündeten zu bringen. Allen voran die USA und Frankreich hatten nämlich seit Anfang der 1960er Jahre begonnen, von den Dogmen des Kalten Krieges Abschied zu nehmen und sich auf den Weg zu Verhandlungen mit Moskau gemacht, um die Gefahren für den Weltfrieden zu reduzieren. Die unionsgeführten Regierungen in Bonn verharrten hingegen auf den Standpunkten aus dem vorherigen Jahrzehnt; es drohte eine außenpolitische Isolierung der Bundesrepublik innerhalb des westlichen Lagers.
Der Koalitionspartner CDU/CSU bremste die Neuausrichtung der Außenpolitik durch Willy Brandt, aber erste entspannungspolitische Schritte waren möglich, so die weitgehende Abkehr von der „Hallstein-Doktrin“, nach der die Bundesrepublik die diplomatischen Beziehungen mit allen Ländern abbrach, die Botschafter nach Ostberlin entsandten.
Die allmählichen Fortschritte zur Entspannung der Beziehungen zwischen Ost und West, der Übergang vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden, standen aber abrupt in Gefahr, obsolet zu werden, als in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 die Rote Armee in die Tschechoslowakei einmarschierte, um das Land wieder auf Linie zu bringen. Der „Prager Frühling“ endete mitten im Hochsommer durch die Kälte von Panzern und Gewehren.
Stärkung der NATO kein Ersatz für aktive Ostpolitik
Wie reagierte der Bundesaußenminister und SPD-Vorsitzende auf den Bruch des Völkerrechts durch die Sowjetunion? „Mit starken Worten und gefühlvollen Appellen ist jetzt niemandem geholfen (…). Es gilt nüchtern zu prüfen, (…) was unsere Interessen gebieten und was sich für die europäische Politik ergibt“, erklärte Willy Brandt am 22. August 1968. Die Besetzung der Tschechoslowakei bedeute nicht, dass der Kurs auf Abbau der Spannungen und mehr Zusammenarbeit gescheitert sei. Diese Ziele „bleiben auch dann richtig, wenn andere sich ihnen zu entziehen suchen. Sie haben (…) aus Furcht vor den Folgen einer freieren Entwicklung und besserer zwischenstaatlicher Beziehungen“ gehandelt. Überprüfen müsse man aber „die Wege, auf denen wir dieses Ziel erreichen können“, ergänzte er im „Spiegel“.
Auf Forderungen der USA, die Bundesrepublik müsse nun noch mehr für die NATO leisten, antwortete Brandt mit dem Hinweis, er verstehe dies als Aufforderung, sich noch stärker für den Frieden einzusetzen. Mehr Geld für das Militär bedeute nicht automatisch mehr Sicherheit, Vorrang habe weiterhin die Reduzierung der Spannungen zwischen den Blöcken, die NATO zu stärken sei kein Ersatz für eine aktive Ostpolitik. Man müsse eine Strategie erarbeiten, welche die Sowjetunion nicht als Drohung empfinde, aber auch nicht als Ausdruck westlicher Feigheit, und auf keinen Fall sollte es zu einem neuen Rüstungswettlauf kommen.
Lässt sich hieraus etwas für die heutigen Beziehungen zu Russland lernen? Vorweg einige notwendige Bemerkungen:
- Die Sowjetunion war 1968 noch weiter entfernt davon, eine liberale Demokratie zu sein, als es das heutige Russland ist.
- Beide verfolg(t)en eine imperialistische, moralisch zweifelhafte Außenpolitik.
- Der damalige sowjetische KP-Chef Leonid Breschnew und der heutige russische Staatschef Putin brachen Regeln des Völkerrechts: Breschnew durch die Verletzung der tschechoslowakischen Souveränität, Putin durch die Annexion der zur Ukraine gehörenden Krim. Beiden ist gemeinsam die Vorstellung, ihr Land brauche eine Einflusszone aus Staaten mit eingeschränkter Souveränität. 1968 war die Tschechoslowakei Opfer dieses Denkens, in der Gegenwart ist es die Ukraine.
- Aber: 1968 war Moskaus Ziel, den internationalen Status Quo zu zementieren, also die bestehenden Grenzen festzuschreiben, während es heute im Gegenteil die Grenzen und Einflusszonen zu seinen Gunsten verschieben will.
Die Geschichte gab Brandt recht
Nach 2014 stellt sich wie 1968 die Frage, ob Verhandlungen mit Moskau überhaupt Sinn machen, ob Putin künftig wieder vertragstreu sein werde. 1968 lautete Brandts Antwort, man müsse den Kurs auf Entspannung und Abrüstung beibehalten, nicht die Zweifel an der Vertragstreue der Sowjetunion obsiegen lassen. Dem „Spiegel“ erklärte er dazu: „Das ist ein Punkt, bei dem man in Gefahr ist, bei den eigenen Landsleuten sich zu disqualifizieren, weil man als jemand erschiene, der nicht die harte Wirklichkeit dieser Welt kennt. Trotzdem: Was würde aus der Menschheit, wenn es nicht immer wieder solche Versuche gäbe?“ Die Geschichte hat ihm recht gegeben.
Brandt unterschied zwischen einer moralischen Position und einer moralisierenden Politik. Die moralische Position war sein unbezweifelbares Eintreten für Freiheit und Frieden. Die moralisierende Politik hingegen hätte bedeutet, sich auf „starke Worte und gefühlvolle Appelle“ zu beschränken. Das hieß nicht, regungslos dem Unrecht zuzuschauen. In seiner ersten Erklärung zum Einmarsch fielen Worte wie „Empörung“, „Lüge“ und „Rechtsbruch“. Und sein Kniefall in Warschau 1970 zeigte, wie hoch auch er die Bedeutung symbolischen Handelns veranschlagte. Aber im Grundsatz stand für ihn die Verantwortungsethik über der Gesinnungsethik.
Es reicht nicht, wenn sich Berlin und Moskau verständigen
Denjenigen, die heute dazu raten, sich angesichts der Spannungen zwischen Russland einerseits, der NATO und der EU andererseits an die Entspannungspolitik Willy Brandts zu erinnern und zu schauen, was daraus für heute reaktiviert werden könnte, wird von manchen vorgeworfen, dies liefe auf eine Wiederholung der Appeasement-Politik hinaus, mit der Großbritannien und Frankreich 1938 versuchten, Hitlers Aggression gegen die Tschechoslowakei zu stoppen. Abgesehen davon, dass Putin nicht mit Hitler gleichgesetzt werden kann, steht jeder Versuch eines diplomatischen Vorgehens gegenüber einer offensiv bis aggressiv vorgehenden Macht – so lässt sich Putins außenpolitischer Kurs durchaus beschreiben – im Verdacht, eine Neuauflage der Appeasement-Strategie zu sein. Aber wenn heute westliche Außenpolitiker*innen trotz alledem zum Dialog mit Russland aufrufen – und die USA und die NATO dies gerade aufgegriffen haben – dann will so gut wie keiner unter ihnen die Ukraine zum Verhandlungsobjekt machen, sie womöglich Putin als Opfer anbieten, wie dies 1938 Chamberlain und Daladier gegenüber Hitler taten.
Auch in diesem Punkt lässt sich von Willy Brandt lernen: So entscheidend Moskau für den Erfolg der Ostpolitik war, war Brandt doch immer daran gelegen, in Warschau und in den anderen Hauptstädten des Ostblocks nicht den Eindruck aufkeimen zu lassen, die Bundesrepublik und die Sowjetunion verständigten sich über ihre Köpfe hinweg. Der Hitler-Stalin-Pakt lag damals nicht einmal 30 Jahre zurück, aber auch heute noch beeinflusst er den Blick Polens und der baltischen Staaten auf die deutsche Russland-Politik. Es reicht eben nicht, wenn sich Berlin und Moskau verständigen, dies würde Konflikte nicht lösen, sondern nur verlagern.
Übrigens: Wer tatsächlich für Appeasement plädiert, ist die AfD, die uneingeschränkt an der Seite Russlands steht und damit eine Linie der deutschen extremen Rechten fortsetzt. Denn auch die NPD reagierte 1968 auf die Besetzung der ČSSR mit dem Bemerken, dies zeige, dass es in Ost- und Mitteleuropa nur auf die Deutschen und die Russen ankomme.
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