Tagebuch einer jungen Delegierten: Die Zeitrechnung Platzeck (16.11.2005)
Wir haben allen die Meinung gesagt. Ob meine Basis in Herne jetzt zufrieden ist? Drei Tage Hallenatmosphäre - aber die Wirklichkeit findet bekanntlich zu Hause am Fernseher statt. Ob der
Parteitagszauber auch in "Einsdreißig"-Sendezeit funktioniert hat?
Heute ist Abschied. Tag eins in der Zeitrechnung Platzeck. Franz, wo ist die
Bebel-Uhr? Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Ein Zauber, der die
Sozialdemokratie einig stimmt? Auf der Suche nach diesem Zauber geht der neue Vorsitzende über die Glienicker Brücke. Ob er weiß, dass er damit auf den Spuren des scheidenden Kanzlers
wandert?
"Über sieben Brücken musst du gehen" - der Schröder-Freund Maffay covert den Puhdys-Song. Ich wünsche uns für die Zukunft weniger dunkle Jahre, noch mehr hellen Schein und ein bisschen
Tabaluga-Zauber. Mehr Dichter und Denker braucht das Land.
Doch bei aller Parteitagsromantik: Am dritten Tag sorgen die 285 Seiten
Antragsbuch schnell für Entzauberung. Anträge, Initiativanträge, Leitanträge, Änderungsanträge, Perspektivanträge: Überweisungen an Bund und Land in der Fassung der Antragskommission.
Während die letzten Tage gefüllt waren mit zumeist unmittelbar wählbaren Rednern, die sich gute Wahlergebnisse erhofften, sind heute diejenigen an der Reihe, die sich verewigen wollen. Mit
Glück bei Phoenix, ansonsten eben nur im großen Protokoll. Gebunden und bebildert.
Andere Anwesende scheinen sich geistig bereits von Karlsruhe verabschiedet zu haben. Auf den Fluren zählen nicht mehr Flügel, sondern Flüge. Aus den Strömungen sind längst Züge geworden.
Jetzt haben die Delegationsleiter wieder die Oberhand. Wenn es jemals Zweifel gegeben haben sollte: Bei Anweisungen zu Abfahrtszeiten, Buseinteilungen und Gepäckverwahrung sind die Hierarchien
wieder klar gegliedert.
Über Ströme führen Brücken, links ist da, wo der Daumen rechts ist, und auch Schwarz ist nur ein ganz dunkles Rot.