Tagebuch einer jungen Delegierten: Der Mantel der SPD ist rot! (14.11.2005)
Der Mantel der SPD ist rot und ziemlich alt, aber warm und gemütlich.
Ich halte die golden umbrafarbene Einladung zum 55.Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Karlsruhe in den Händen - mit den vielen bekannten Unterschriften darauf könnte
man meinen, der Parteitag sei der Mantel der Geschichte persönlich, in den sich die Sozialdemokratie die nächsten Tage einwickelt.
Geschlossenheitsparteitag, Abrechnungsparteitag, Versöhnungsparteitag, Koalitions-, Zukunfts-, Generationen- oder Auferstehungsparteitag - Der Mantel der SPD ist jedenfalls rot und schon
ziemlich alt. Aber warm und gemütlich. Ein Stück, dass man niemals wegschmeißen würde, egal was andere sagen.
Diesmal bin ich Delegierte. Ich soll die Basis vertreten. Die Basis aus Wanne-Eickel hat mir mit auf den Weg gegeben: "Sag denen da in Berlin bloß die Meinung", davor bräuchte ich keine Angst
haben. Bei den Wahlen soll ich darauf achten, "wer ein Ohr für die Partei hat". Und ich soll aufpassen, dass unsere Steinkohle nicht komplett unter die Räder kommt. Und an die Medien muss ich
denken. Aber die machen ja sowieso was sie wollen.
Die Delegierten sind auf einem Parteitag die Aushängeschilder der Partei. Deswegen muss ein Delegierter auch Staffage sein: auf seinem Platz sitzen, freundlich interessiert in die Kameras
gucken, klatschen bis die Hände rot sind - neuerdings zählt immer irgendwer die Applausminuten mit - und aufmerksam den Rednern zuhören. Und dabei bloß die Reihenfolge nicht verwechseln.
Schließlich entscheiden die Delegierten auch über die Richtung der Partei und stellen wichtige politische Weichen. Dazu empfiehlt es sich, vor Beginn des Parteitages die 170 Seiten im
Antragsbuch gelesen zu haben, seine Stimmkarte nicht unter den Zeitungsbergen auf den Delegiertentischen zu verlieren und im richtigen Moment die Hand zu heben.
Die Erfahrenen nehmen außerdem Kaffee und Schnittchen mit, weil sie wissen, dass die Schlangen an der Essenausgabe meistens lang, Preise horrend und Pausen kurz sind. Koordinationsfähigkeit
und Zeitmanagement sind gefragt, denn die Durchsage des Präsidiums kommt bestimmt, wenn es heißt: "Liebe Delegierte, besucht bitte auch die Ausstellung "Lebendiger Ortsverein".