Geschichte

60. Geburtstag von Hape Kerkeling: Wie der Entertainer fast SPD-Chef wurde

Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl wollte sich die SPD bei ihrem Parteitag in Bremen 1991 neu aufstellen. Hoffnungsträger Björn Engholm sollte zum Parteichef gewählt werden. Dann aber trat Entertainer Hape Kerkeling auf den Plan.

von Sven Haarmann · 9. Dezember 2024
Entertainer Hape Kerkeling 1991: Der SPD-Parteitag in Bremen fand Eingang in seine Show „Total normal“.

Entertainer Hape Kerkeling 1991: Der SPD-Parteitag in Bremen fand Eingang in seine Show „Total normal“.

„Wat mutt, dat mutt!“ Mit dieser im hohen Norden geläufigen Redensart hatte sich Björn Engholm, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, am 10. Dezember 1990 bereit erklärt, SPD-Parteivorsitzender zu werden – ein Amt, das andernfalls in wenigen Monaten vakant zu werden drohte, denn die SPD war bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl eine Woche zuvor auf 33,5 Prozent abgestürzt und ihr glückloser Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine hatte tags darauf in einer Parteivorstandssitzung den ihm angetragenen Parteivorsitz ausgeschlagen. (…) Am 17. Dezember nominierte das SPD-Präsidium Engholm, gewählt werden sollte er fünf Monate später auf dem nächsten ordentlichen Parteitag in Bremen. (…)

Tumultartige Szenen vor der Parteitagsbühne

Obwohl oder gerade weil derlei Kontroversen auch in den Medien genüsslich kommentiert wurden, verbreitete der SPD-Parteitag lebendige Aufbruchstimmung, hübsch illustriert durch mehrere Geschenke, die dem neuen Vorsitzenden überreicht wurden. Ein kleiner Handventilator für beständig frischen Wind sowie ein langes, dickes Tau als symbolhaft überhöhter Strang, an dem sogleich viele gemeinsam zogen, sorgten für schöne Bilder. Gleichwohl wurde noch während der Wahl Björn Engholms der Albtraum einer jeden Parteitagsregie Wirklichkeit, denn auf einmal spielten sich vor der Bühne tumultartige Szenen ab – ausgelöst durch Hape Kerkeling.

TV-Entertainer Kerkeling war zu jener Zeit 26 Jahre jung und erlebte im Frühjahr 1991 einen Höhenflug. Im Dezember 1990 waren drei Ausgaben seiner unregelmäßig ausgestrahlten Show „Total Normal“ gezeigt worden, deren anarchische Sketche und Streiche dem Publikumsliebling in den Folgemonaten eine Lawine renommierter Preise (Adolf-Grimme-Preis mit Silber, Rose von Montreux in Bronze, Goldene Europa etc.) bescherten.

Der Komiker setzte Ende April noch eins drauf, narrte als Königin Beatrix verkleidet das Sicherheitspersonal am Schloss Bellevue und moderierte in „Total Normal“ Anfang Mai eine groteske Gameshowpersiflage („Das ganze Leben ist ein Quiz und wir sind nur die Kandidaten ...“) in Grund und Boden. Nur wenige Wochen später suchte er nun den SPD-Parteitag heim, hatte dabei allerdings keine Mörder-Duschhauben und auch nicht die Mitropa-Kaffeemaschine – achteinhalb Tassen, hängende Filter mit Tropfverschluss – im Gepäck: Er wollte sich als Gegenkandidat von Björn Engholm aufstellen lassen.

Die SPD bietet Kerkeling eine offene Flanke

Negativstreifen, die sich in der Fotosammlung unseres Archivs befinden und die zweifelsfrei am 29. Mai 1991 morgens vor der Stadthalle belichtet wurden, zeigen – zwischen Fotos von ankommenden Delegierten – Hape Kerkeling in einem Wagen von „Radio Bremen“. Vieles spricht dafür, dass Kerkeling sich an jenem Morgen im Hintergrund hielt, zumal der zweite Beratungstag kurz nach 9 Uhr begann und mit Engholms Grundsatzrede alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

Am Tag zuvor hatte Hans-Jochen Vogel in seiner Rede die Reform des Parteilebens angesprochen und für die Anwerbung neuer Mitglieder eines vorausgesetzt: „... und es muss im Ergebnis auch Spaß machen, bei uns zu sein und bei uns mitzumachen. Spaß machen muss es!“ Diesem Wunsch wollte Kerkeling nun gerne Folge leisten. Nur wie? Auf dem CDU-Parteitag in Bremen im September 1989 („Total Normal“, Folge 1) hatte er sich im Saal noch damit begnügen müssen, vor der Bühne einmal von links nach rechts zu laufen und an der Seite ein „Lachen!“-Schild hochzuhalten.

Die Sozialdemokrat*innen hingegen boten ihm eine offene Flanke und unverhofft viele prominente Genoss*innen auf dem Silbertablett, denn ein an alle Journalist*innen verteilter „SPD-Presseservice“ kündigte an, der ansonsten für Fotograf*innen gesperrte Raum direkt vor der Bühne werde zehn Minuten vor Bekanntgabe des Wahlergebnisses zum Parteivorsitz für die Berichterstattung geöffnet: SPD-Sprecherin Cornelie Sonntag wünschte sich „Ruhe“ und „kollegiale Absprache“, „um Turbulenzen zu vermeiden“.

Kerkelings Kampfansage an Björn Engholm

Die Turbulenzen hat Kerkeling dem Parteitag prompt geliefert: Zwar wurden alle Fotograf*innen im Innenraum zunächst auf Abstand zur Bühne gehalten, doch Kerkeling gelang es, nach vorne zu stürmen. Zuerst landete er bei Gerhard Schröder, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Inge Wettig-Danielmeier und Egon Bahr, die ihn – mit Ausnahme des niedersächsischen Ministerpräsidenten – amüsiert belehrten, für seine Gegenkandidatur sei es „bisschen spät“, schließlich laufe der Wahlgang bereits.

Sogleich nahm Kerkeling seinen Konkurrenten ins Visier, Engholm spielte mit und parierte die Kampfansage: „Ich werde Sie mit aller Macht verhindern!“ Doch dann drängte ein halbes Dutzend Saalordner und Leibwächter Kerkeling lachend, aber mit Nachdruck vom Bühnenrand weg, Cornelie Sonntag verlangte seine Akkreditierung zu sehen, die Stimmung drohte zu kippen. Kerkeling war allerdings akkreditiert. Zwar fehlt im Archiv in der Überlieferung des SPD-Parteivorstands in einer Mappe der Pressestelle mit alphabetisch geordneten Anträgen auf Akkreditierung zum Parteitag von Kerkeling jede Spur, doch möglicherweise haben er und seine Kollegen sich als Nachzügler erst an diesem Morgen am Empfangsschalter angemeldet.

Die Genoss*innen lassen sich nicht aus der Ruhe bringen

Dass niemand ihn am Schlafittchen packte, hatte Kerkeling wohl auch den umstehenden Fotograf*innen und Kameramännern zu verdanken, vor deren Objektiven er schwerlich aus dem Saal zu zerren war. So ließen sie ihn gewähren: Kerkeling klapperte Johannes Rau, Oskar Lafontaine, Hans-Jochen Vogel, Willy Brandt und Herta Däubler-Gmelin ab, zog sich dann aber zurück und führte erst später in fast leerer Halle (vermutlich in der Mittagspause) ein Interview auf Augenhöhe mit Gerhard Schröder. Darauf folgte noch ein Wortwechsel mit Wolfgang Thierse – mitten im Interview einer kopfschüttelnden NDR-Kollegin.

Die überfallenen Genoss*innen ließen sich allesamt nicht aus der Ruhe bringen, reagierten aber doch unterschiedlich. Viele wussten die Bühne zu nutzen, die Kerkeling ihnen für Sekunden bot. Hatte Schröder ihn anfangs noch eher beiläufig abgefertigt, als halte er ihn für einen unbedarften Reporterneuling, so wirkte er am Mittag wie ausgewechselt und bot ihm „einen Orden“ an.

Rau und Thierse schüttelten ihre Punchlines lässig aus dem Ärmel und Vogel lieferte mit seiner Frage, ob Kerkeling Sozialdemokrat sei, diesem sogar generös eine Steilvorlage für den nächsten Schenkelklopfer. Lafontaine hingegen zeigte ihm freundlich, aber deutlich die kalte Schulter. Brandt war so sehr in das Manuskript seiner nahenden Rede vertieft, dass er Kerkeling mit gemurmeltem „Danach können wir wieder miteinander sprechen ...“ vertröstete, ihm also gewissermaßen ein Interview versprach. Kam es dazu? Wahrscheinlich nicht.

Bestimmte Grenzen überschritt Kerkeling nie

Mit seinen humoristischen Attacken auf offener Straße, an der Haustür oder auch auf Promi-Treffen hat Kerkeling das Genre des Überfallinterviews stark geprägt. Auf Parteitagen war er vermutlich sogar der erste seiner Zunft und somit Vorreiter von Satiriker*innen wie Lutz van der Horst und Ralf Kabelka, die seit Jahren für die „heute-show“ Politiker*innen in ihrem eigenen Revier auflauern, um ihnen mit Humor auf den Zahn zu fühlen oder sie mit bissigem, ätzendem Spott bloßzustellen. So weit ist Kerkeling nie gegangen.

Gewiss, er schüttete seiner eigenen TV-Ansagerin einen Eimer Wasser über den Kopf und er haute auf einer Kaffeefahrt einen Verkäufer mitten in dessen Kochgeschirrpräsentation gnadenlos in die Pfanne – Poltiker*innen aber wurden nie verletzt, allenfalls gehörig und gutgelaunt auf den Arm genommen. Dabei erweckte Kerkeling oft den Eindruck, als sei es ihm selbst unangenehm, die Grenzen gängiger Berichterstattung zu überschreiten. Ob andere auf dem SPD-Parteitag gefilmte Szenen und Gespräche später im Schneideraum als nicht sendefähig oder schlichtweg als nicht lustig angesehen und aussortiert wurden, muss offenbleiben.

Kerkelings Klamauk beeinträchtigte nicht einmal den Ablauf des Bremer Parteitages, weil er Björn Engholm nur in einer Pause die Show stahl – im Protokoll verschwindet die Aktion völlig unsichtbar zwischen zwei Absätzen. Dass Kerkeling an der Oberfläche der sozialdemokratischen Zeremonie kratzte und sich darüber lustig machte, dass die Wahl des einzigen Kandidaten von vornherein feststand, mag den neuen SPD-Parteivorsitzenden sogar dazu bewogen haben, am Rednerpult einen ironischen Schlenker einzuflechten, bevor er die Wahl annahm, denn er zeigte sich „zutiefst berührt von der Tatsache, dass ich schon im ersten Wahlgang gewählt wurde ...“

In den Medien spielt Kerkelings Auftritt kaum eine Rolle

Etwaige Sorgen der SPD, Kerkelings Aktion könne in den Tagen darauf die öffentliche Wahrnehmung dominieren, erwiesen sich als unbegründet. In der zeitgenössischen Presse nach dem 29. Mai, die bei uns im Archiv als umfangreiche Sammlung unzähliger Zeitungsausschnitte vorliegt, wurden nur wenige Erwähnungen gefunden. „BILD“ hob die Aktion ohne Foto auf Seite 1 bzw. 2 und bemühte falsch notierte Zitate. Ansonsten wurde „Kabarettist Harpe Kerkeling“ noch im „Flensburger Tageblatt“ erwähnt, drei Wochen später meldete „DER SPIEGEL“ eine Replik des SPD-Ortsvereins in Oyten. Aber sonst?

Selbst jene ausführlichen Parteitagsberichte, die auch für atmosphärische Details einen Blick hatten, ließen ihn links liegen. Die hochseriöse „Tagesschau“ zeigte nichts; in den Nachrichten der Privatsender RTL plus, SAT.1 und PRO7 könnte die Hemmschwelle niedriger gewesen sein. Es scheint jedoch, als seien vier Wochen lang keine Bilder verfügbar gewesen.

Dreieinhalb Minuten, die im Gedächtnis blieben

Die neue Total Normal-Ausgabe am 4. Juli 1991 geriet als Doppelfolge zur absichtlich überdrehten Selbstbeweihräucherung und zugleich zum Abgesang auf die Sendereihe (es folgten „nur“ noch Specials auf der Internationalen Funkausstellung). Die Aufnahmen vom SPD-Besuch wurden ohne Einleitung und ohne abschließenden Kommentar Kerkelings in einem dreieinhalbminütigen Zusammenschnitt eingefügt.

Das meiste Aufsehen erregte jedoch die zwei Wochen nach dem SPD-Parteitag von einem vorgeblich polnischen Künstler-Duo auf einem klassischen Konzert dargebotene Passage aus einer modernen Oper („Hurz!!!“) mitsamt hilflosem Fachpublikum – demgegenüber nahm sich Kerkelings Abstecher zur SPD vergleichsweise brav und weniger subversiv aus. Doch im Kontext der Parteigeschichte mögen es Jahrzehnte später diese dreieinhalb Minuten sein, die vom SPD-Parteitag in Bremen vornehmlich im kollektiven Gedächtnis geblieben sind. (…)

Der Text erschien zuerst am 29. Mai 2021 auf der Seite des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Nachtrag, 6.12.2024: Vor wenigen Tagen ist es uns gelungen, die in unserem Archiv verwahrten Videobänder mit der Dokumentation des SPD-Parteitags zu digitalisieren - wir werden sie uns ganz genau ansehen ...

Autor*in
Sven Haarmann

arbeitet im „Team Erschließung“ des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.

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