Geschichte

Sozialdemokraten im Sudetenland

von Andreas Herrmann · 22. November 2012

Was mit dem Textilarbeiter und Krankenkassenfunktionär Josef Seliger 1918 begann, hat heute durchaus eine aktuelle Europäische Dimension – gerade in Fragen der Nationalitätenpolitik.

Als im Herbst 1918 der Erste Weltkrieg endete und das von Österreich dominierte Reich der Habsburger endgültig Geschichte sein sollte, entstand die Tschechoslowakei als neuer Staat. Mit den Sudetendeutschen hatte sich über Nacht gleichzeitig eine nationale Minderheit herausgebildet, zu der auch Sozialdemokraten zählten, die bisher der 1863 in Asch gegründeten österreichischen Mutterpartei angehörten. Gleichzeitig hatte das Organisieren des Kampfes gegen Armut, soziale Unsicherheit und Rechtlosigkeit im Jahr 1878 in Prag schon zur Gründung der tschechischen Sozialdemokratie geführt

Doch Hoffnungen auf eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Tschechen in den Reihen der Sozialdemokratie im neuen Staat erwiesen sich als relativ. Alte Konflikte zwischen den bisher diskriminierten Tschechen und den Deutschen, die in vielen Teilen des gesellschaftlichen Lebens in Böhmen, Mähren und Schlesien privilegierte Stellungen hatten, traten hervor. Tschechisch-slowakischer Chauvinismus führte zum Beispiel dazu, dass den Deutschen unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung die Mitarbeit an der zu gestaltenden Verfassung verweigert wurde. Auch Wien wollte  nicht helfen, befanden sich die sozialdemokratischen Abgeordneten im Sudetenland doch schließlich im Ausland

Gründung der DSAP 1919
Deshalb gründeten die deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei Ende August 1919 in Teplitz die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiter-Partei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP). Josef Seliger, ein aus der Nähe von Reichenberg stammender Abgeordneter der altösterreichischen Sozialdemokratie, Textilarbeiter, Krankenkassenfunktionär und Fachmann für Fragen der nationalen Zusammenarbeit im gemischt nationalen Böhmen, wurde ihr Vorsitzender. Auf dem Gründungsparteitag hatte er die tschechische Mehrheitsnation aufgefordert, allen Nationen im neuen Staat - Deutschen, Polen, Ungern, Slowaken und Ruthenen - die gleichen Rechte einzuräumen. Auch die tschechische Bruderpartei solle gemeinsam mit den sudetendeutschen Genossen für die Errichtung einer sozialistischen Ordnung kämpfen. Doch das blieb ein Wunsch.

Aber es gab Erfolge. Zu den ersten Parlamentswahlen im Jahr 1920 wurde die DSAP mit 44 Prozent der abgegebenen deutschen Stimmen und 31 Abgeordneten in der Nationalversammlung stärkste deutsche Partei in der neuen Tschechoslowakei. Dies war der Höhepunkt des politischen Wirkens von Josef Seliger, der jedoch kurz darauf an einer nicht ernst genommenen Blutvergiftung starb. 

Dieses Wahlergebnis verdeckte jedoch die seit Kriegsende von der Parteilinken in die DSAP hineingetragenen Spannungen. Abtrünnige waren der Meinung, dass Anwendung von revolutionärer Gewalt ein besseres Mittel als Reformen nach parlamentarisch- demokratischen Grundsätzen sei, um den Kapitalismus zu überwinden. Seliger hatte dies zurückgewiesen. Die Linke trennte sich kurze Zeit später von der DSAP und gründete gemeinsam mit tschechischen und slowakischen Gesinnungsgenossen die Tschechoslowakische Kommunistische Partei (KSC).  

Die Folgejahre waren für die DSAP durch das Ringen mit der Weltwirtschaftskrise, den Kampf gegen das NS-Regime im Deutschen Reich und gegen die Infiltration dieser Ideologie bei den bürgerlichen sudetendeutschen Parteien geprägt. Nach der Abtrennung der  Sudetengebiete von der CSR 1938 prägte bis 1945 der nationalsozialistische Terror den Umgang mit den sudetendeutschen Sozialdemokraten. Nach der Beendigung des Krieges erfolgte die Vertreibung der gesamten deutschen Bevölkerung, welche auch die meisten deutschen Antifaschisten und Sozialdemokraten mit einschloss.

Neubeginn in Bayern – die Seliger- Gemeinde

Die vertriebenen sudetendeutschen Sozialdemokraten gliederten sich sofort in die wieder entstandene SPD vor allem in Bayern ein. Durch sie wurde eine große Zahl von SPD-Ortsvereinen gegründet, die es vorher gar nicht gab. Mit der Gründung der Seliger-Gemeinde 1951 schufen sich die sudetendeutschen Sozialdemokraten wieder eine eigene Gesinnungsgemeinschaft in Deutschland. Sie versteht sich heute als Nachfolgeorganisation der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP). 

Sie ist nach der Erfahrung des Exils und des Wiederaufbaus fest in der Bundesrepublik Deutschland etabliert, hat aber auch Gruppen in Kanada, Skandinavien, Großbritannien und in Österreich. Sie unterstützt die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und sucht die Zusammenarbeit mit anderen sudetendeutschen sowie mit tschechischen und österreichischen Einrichtungen. Aktuell setzt sie sich ein für die Verständigung zwischen Sudetendeutschen und Tschechen, für eine verantwortungsbewusste sozialdemokratische Politik in der Mitte Europas und für eine kontinuierliche Weiterentwicklung der demokratischen Strukturen der Europäischen Union, heißt es in den 1998 beschlossenen Grundsatzprogramm „Brannenburger Thesen“, welches das Vermächtnis von Josef Seliger bis in die heutigen Tage lebendig hält.


Eine sehr informative Ausstellung „Die Sudetendeutschen Sozialdemokraten. Von der DSAP zur Seliger- Gemeinde“ ist aktuell im Sächsischen Landtag in Dresden zu sehen. Die Ausstellung wird gefördert vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.

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Andreas Herrmann

arbeitet als Journalist für die Sächsische Zeitung im Raum Görlitz sowie für bundesweite Medien zu den Themen Frieden und Entwicklungspolitik. In der SPD engagiert er sich als Ortsvereinsvorsitzender in Löbau sowie als Sprecher des Kulturforums Lausitz.

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