Wenn mit dem 70. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit wieder wachgerufen wird, dann denken die meisten zu Recht zunächst an die in
Konzentrationslagern Gefolterten und Ermordeten sowie die Toten und Verwundeten des Krieges. Dass auch vor dem Nationalsozialismus Gerettete durchaus Opfer sein können, zeigt das Schicksal der
sogenannten Kindertransport-Kinder.
Ausgelöst von Berichten über die Reichspogromnacht entstand in Großbritannien im November 1938 innerhalb weniger Tage eine Initiative von jüdischen und christlichen Organisationen und
Einzelpersonen mit dem Ziel, wegen ihrer jüdischen Religion oder Herkunft von Verfolgung bedrohte Kinder aus Deutschland und den von Deutschland okkupierten Gebieten in Europa zu retten. Den
organisatorischen Rahmen bildete das Refugee Children's Movement (RCM) mit ehrenamtlichen Helfern und Regionalbüros im ganzen Land. In Verhandlungen mit der Regierung in London wurde erreicht,
dass bedrohten Kindern und Jugendlichen unter 17 Jahren die Einreise nach Großbritannien auf der Grundlage von Sammelvisa erlaubt wurde. Bedingung war, dass die Flüchtlinge dem Staat nicht
finanziell zur Last fallen würden. Für Unterbringung, Verpflegung usw. musste das RCM garantieren. Ein wesentlicher Teil seiner Arbeit war daher die Suche nach aufnahmewilligen Pflegefamilien,
Paten und Sponsoren.
Verzweifelte Eltern, verstörte Kinder
Auf dem Kontinent wurden die Kindertransporte von der Reichsvertretung der deutschen Juden, den Kultusgemeinden in Wien und Prag sowie Einrichtungen für nicht arische Christen wie dem Büro
Grüber organisiert. Zahlreiche bürokratische Hürden mussten überwunden werden, bevor die deutschen Behörden ihre Zustimmung zu der Ausreise eines Kindes gaben. Umfang und Inhalt des Gepäcks waren
streng limitiert. Um Aufsehen zu vermeiden, war es den Eltern verboten, ihre Kinder zum Zug zu bringen. Aufgrund der begrenzten Aufnahmekapazitäten in Großbritannien und wegen der restriktiven
Haltung der deutschen Behörden konnten längst nicht alle Wünsche von Eltern, ihre Kinder in das sichere Ausland zu geben, berücksichtigt werden. So mussten nicht selten Eltern mehrerer Kinder
entscheiden, welches ihrer Kinder die rettende Reiserlaubnis erhalten sollte. Zahllose Briefe und Anzeigen in britischen Zeitungen legen Zeugnis ab von der Verzweiflung, in der sich Eltern damals
befanden.
Der Transport nach Großbritannien erfolgte in Gruppen von 300 bis 400 Kindern vornehmlich mit Zügen und Fähren über die Niederlande, aber auch direkt mit dem Schiff von Hamburg. Kleinkinder
wurden dabei von älteren Kindern betreut. Ursprünglich suchten sich potentielle Pflegeltern bei der Ankunft der Kinder ihr "Wunschkind" aus; die Folge war, dass vor allem Mädchen im Alter von 6
bis 10 Jahren vermittelt wurden, während ältere Jungen nur schwer Pflegestellen fanden. Bald wurde diese Praxis verworfen und Kinder wurden gezielt an zuvor ausgesuchte Familien vermittelt. Dabei
standen die Helfer vor dem Dilemma, dass sie auf die Hilfsbereitschaft der britischen Öffentlichkeit angewiesen waren, weshalb bevorzugt vermeintlich "problemlose" Kinder berücksichtigt wurden.
Auch gelang es nicht immer, für Kinder aus orthodoxen jüdischen Familien adäquate Pflegeeltern zu finden. Viele Kinder mussten in Heimen untergebracht werden.
Sie sahen ihre Eltern nie wieder
Insgesamt belegt die Unterbringung von 10 000 überwiegend jüdischen Kindern zwischen Dezember 1938 und September 1939 die große Hilfsbereitschaft der britischen Bevölkerung - Juden, Christen
und Agnostiker gleichermaßen. Die überlieferten Berichte zeigen allerdings auch, dass einige die Aufgenommenen als billige Arbeitskräfte missbrauchten und nicht wenige Pflegeeltern auf die
Betreuung der entwurzelten jungen Menschen unzureichend vorbereitet waren. Diese mussten den plötzlichen Verlust von Eltern, Verwandten und vertrauter Kultur verkraften - insbesondere Jüngere
erfuhren häufig erst unmittelbar vor der Abreise, dass sie ohne ihre Eltern abfahren müssten. Belastend wirkten zudem die Sorge um die Zurückgebliebenen und die Ungewissheit, wie lange die
Trennung von Eltern und Heimat anhalten würde.
Mit dem Beginn des Krieges im September 1939 brachen die Kindertransporte ab. Tausende Kinder standen noch auf den Wartelisten und konnten nicht mehr nach Großbritannien in Sicherheit
gebracht werden. Nur etwa zehn Prozent der Geretteten sahen nach dem Krieg ihre Eltern und Verwandten wieder; die Mehrzahl der Zurückgebliebenen war in den nationalsozialistischen
Vernichtungslagern ermordet worden.
Regelmäßige Treffen auch 70 Jahre danach
Vor etwa 30 Jahren entstanden in Großbritannien und den USA, wohin viele Kindertransport-Kinder nach 1945 weiter emigriert waren, Selbsthilfegruppen der Teilnehmer der Kindertransporte. Sie
organisieren regelmäßige Treffen - am 23. November 2008 findet in London anlässlich des 70. Jahrestages des Beginns der Kindertransporte ein großes Treffen mit mehreren hundert Teilnehmern statt.
Zudem dienen sie dem Gedankenaustausch und helfen so, die in der Kindheit erlittenen Traumata zu bearbeiten. Auch sorgen die Gruppen dafür, dass in der britischen Öffentlichkeit die Erinnerung an
die Kindertransporte wach gehalten wird, und verfolgen teilweise kritisch die restriktive Einwanderungspolitik ihrer Regierung.
Vor einigen Jahren wurde vor dem Londoner Liverpool Street Station, wo die meisten Kinder ankamen, eine Skulptur zur Erinnerung an die Kindertransporte aufgestellt. Nachdem im Frühjahr
anlässlich der Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag der Besetzung Österreichs durch das Deutsche Reich bereits am Wiener Westbahnhof eine Plastik der in London lebenden Künstlerin Flor Kent zur
Erinnerung an die Kindertransporte enthüllt wurde, soll am 30. November 2008 auch in Berlin vor dem Bahnhof Friedrichstraße eine Bronzeskulptur des Künstlers Frank Meisler zu den
Kindertransporten errichtet werden. Damit wird dann sowohl an den beiden zentralen Ausgangspunkten wie an deren Endpunkt der Kindertransporte als eine bis heute vorbildliche humanitäre Aktion
gedacht.