Geschichte

„Sie kam aus Mariupol“: Eine düstere Familiengeschichte, die Weltgeschichte ist

Natascha Wodin begibt sich auf die Spur ihrer Mutter, die als NS-Zwangsarbeiterin aus der UdSSR nach Deutschland verschleppt wurde. Für ihr Buch ist die Autorin für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 nominiert. Ein so eindrucksvolles wie düsteres Panorama des 20. Jahrhunderts.
von Dennis Grabowsky · 23. März 2017
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Das Schicksal der millionenfach versklavten NS-Zwangsarbeiter blieb in der Nachkriegswahrnehmung bis heute ein blinder Blutfleck. Umso verdienstvoller ist die genealogische Detektivarbeit und literarische Auseinandersetzung, die Natascha Wodin in ihrem Buch „Sie kam aus Mariupol“ unternimmt. Im Mittelpunk steht die Suche Wodins nach der Geschichte ihrer Mutter, die als junge Frau von der deutschen Wehrmacht aus Mariupol in der besetzten Sowjet-Ukraine nach Nazideutschland verschleppt wurde. Die Autorin kam in einem NS-Arbeitslager zur Welt.

Natasha Wodin auf der Suche nach ihren Wurzeln

Wodins Suche nach ihren Wurzeln beginnt im Internet. Sie beschreibt im ersten Teil des Buches ausführlich, wie sie, erst unbedarft, dann durch unerwartete Hilfe und Funderfolge immer akribischer, dem Leben ihrer Mutter, deren Familie und Vorfahren Schritt für Schritt näherkommt – und wie sie als Teil des Ganzen wider Willen aufgesaugt wird. Familiengeschichte ist Weltgeschichte ist persönliche Geschichte.

Die Autorin stößt auf eine großbürgerliche Familie, über die erst der russische Bürgerkrieg, dann der stalinistische und der NS-Terror kommen, sie auseinandertreiben und zerstören. Dennoch findet Wodin sie: lebende, mehr oder weniger entfernte Verwandte, Nachfahren ihrer Vorfahren, heute in Russland zu Hause.

Glücksfund: das verstaubte Tagebuch der Tante

Als Schatz erweist sich der Glücksfund des verstaubten Tagebuchs von Wodins Tante Lidia auf einem alten Schrank in Sibirien. Anhand dieser Aufzeichnungen wagt sie sich an eine literarische Erzählung der Lebensläufe ihrer Angehörigen. In erster Linie Lidias, einer energischen, sehr begabten Frau, die trotz aller Hürden und Schläge einen Weg findet, sich immer ein bisschen mehr zu verwirklichen, als es die herrschenden Um- und Zustände eigentlich zulassen wollen, selbst eingesperrt im sowjetischen Straflager. Der hoffnungsvollste Part des Buches.

Lidias zarte kleine Schwester, Wodins Mutter, hat ihrer Tochter weder Tagebuch noch Erinnerungen, nur dunkle Emotionen hinterlassen. Sorgsam rekonstruiert Wodin ihren Weg aus Mariupol in die NS-Zwangsarbeit nach Franken, wo, nach Krieg und Elend in der Heimat, erneut die Hölle über sie kommt. Schließlich erzählt die Autorin auch von ihrem eigenen Beginn als Kind von „Untermenschen“ im Kriegs- und Nachkriegsdeutschland. Ihre Mutter hielt all dem erlebten Leid nur bis Mitte 30 stand und starb 1956 in der Regnitz.

Nazi-Inferno und Nachkriegsdeutschland

Mit „Sie kam aus Mariupol“ ist Natascha Wodin ein großes Buch gelungen. Und nicht nur ihr, auch ihren Co-Autoren: Vorfahren, die sie zum Großteil niemals kennengelernt, ihnen nun aber ein Denkmal gesetzt hat, das düster mahnt. Familiengeschichte, die auch Weltgeschichte ist – die Multikulturalität des alten Mariupols und das zaristische Russland, die bürgerkriegsgeschüttelte Ukraine, das stalinistische Sowjetregime und der „Holodomor“, das nationalsozialistische Inferno in der Ukraine und das enge, postfaschistische Nachkriegsdeutschland.

Das Buch hinterlässt einen um vieles reicher – und ratlos zugleich. Was ist zu tun gegen den Wahnsinn? Die Autorin findet keine Antwort. Sie bringt es nicht fertig, die wenigen Lichtblicke, helfenden Hände und herzensguten Menschen stärker hervorzuheben. Es wäre vermutlich auch zu viel verlangt angesichts der obszönen Menschenverachtung und des quälenden Hungers, die ihre Mutter zeitlebens begleiteten.

Wir glauben oft, das auf so vielen Feldern zerstörerische 20. Jahrhundert ist bis in seine dunkelsten Ecken hinein ausgeleuchtet. Ein Irrglaube. Auch wenn es schmerzt, es bleibt keine Alternative, als weiter wahrzunehmen und zu erforschen, welches Leid Menschen einerseits zu verursachen in der Lage und andererseits zu ertragen gezwungen waren und sind. Und das manchmal so nah dran an unserer Familie, an uns selbst.

Natascha Wodin: „Sie kam aus Mariupol“, Rowohlt Verlag, 19,95 Euro, ISBN: 9783498073893.

Autor*in
Dennis Grabowsky

aus Berlin war bis 2014 zwei Jahre Redakteur in Omsk/Sibirien. Er hat Germanistik, Geschichte, Politik sowie Literaturwissenschaft studiert und arbeitet als freier Journalist, Lektor und in der Politischen Bildung.

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