Twittern gilt in wertkonservativen Kreisen - freundlich formuliert - nicht gerade als Beispiel für nachhaltige Kommunikation. Dennoch können kurze Gedankenblitze oder fragmentarische Betrachtungen von intellektueller Güte sein.
Zugegeben, selten erreichen die Kurzbotschaften auf einschlägigen Plattformen die Güte eines Schopenhauerschen Aphorismus. Doch das bereits zweite Rede-und-Antwort-Werk von Witzel, Walter und Meinecke zeigt, dass gerade das Andeuten und Antäuschen von Ideen und Eindrücken den Geist des Lesepublikums beflügeln können. Wurde bereits der Vorgänger "Plattenspieler" als Gratwanderung zwischen verbalem Free Jazz und Stand-Up Comedy gewürdigt, so lässt sich damit auch "Die Bundesrepublik Deutschland" treffend beschreiben, das sozusagen mit der gleichen Versuchsanordnung entstand.
Drei Männer, Jahrgang 1955, treffen sich und diskutieren über ihre Erfahrungen in der alten Bundesrepublik beziehungsweise BRD. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn auch anhand der
Verwendung dieses Kürzels spüren sie dem Wandel der Sprache als Ausdruck und Motor habitueller Veränderungen in ehedem Westdeutschland nach. Welche Sprechweisen, Akteure, Symbole prägten die
Zeit, vor allem zwischen den späten 60er- und frühen 80er-Jahren? Sind die (West-) Deutschen nach 1968 ironiefähiger geworden? In den Dialogen werden die Altkanzler Kiesinger, Brandt, Schmidt und
Kohl ("Deutschland war damals noch nicht mal so modern, dass Kohl unmöglich war") wieder lebendig, aber auch die aufkommende Öko-Bewegung und Neuorientierung vieler Linker nach der Hochzeit des
RAF-Terrorismus, die schließlich in den Einzug der Grünen in den Bundestag mündete.
Nicht zuletzt werden die stilprägenden Formate der Medienwelt analysiert. Anhand der ZDF-Hitparade und des Internationalen Frühschoppens etwa zieht das Trio teils waghalsige Rückschlüsse
auf den mentalen Zustand jener Gesellschaft, die sie als Heranwachsende - im Nachhinein betrachten sie sich als zu jung für die Hippies und fast zu alt für die Punkbewegung - oft mit ungläubigen
Augen verfolgten. Auch vor dem Werbefernsehen machen die fast schon bizarren Betrachtungen nicht halt, wie folgende Episode zeigt:
Meinecke: Der sprach in Rätseln.
Witzel: Wenn einem so viel Gutes widerfährt. Im Asbach Uralt liegt der Geist des Weines.
Meinecke: Das ist das Abendmahl.
Walter: Psychedelisch.
Meinecke: Die Wandlung. Vom Nazi zum Demokraten. Das war die Entnazifizierung. (…) Und wir armen Kinder saßen davor und dachten: wie bitte?
Manche Leser mögen die plötzlichen Schnitte und Wechsel zwischen den kulturellen Sphären anstrengen, andere dürften daran Gefallen finden, mit den Diskussionspartnern eine skurrile
Parforce-Tour durch erlebte Geschichte zu machen und am Erkenntnisprozess der Zeitzeugen teilzuhaben. Mit dem Fokus auf westdeutsche Erfahrungen haben die Herausgeber im Supergedenkjahr ein
gewollt subjektives, wenn auch etwas einseitiges Panorama abgeliefert: Ein Mangel, den sie mit anderen Vertretern deutsch-deutscher "Erinnerungsliteratur" zwangsläufig teilen, auch wenn das
damalige Bild von der DDR immer wieder zur Sprache kommt. Nicht nur wegen der Flut an Rückblicken mit ostdeutschem Hintergrund, die während der letzten Jahre meist im Vordergrund standen, ist
diese im besten Sinne unvollendete Bilanz jedoch eine willkommene Abwechslung.
Frank Witzel, Klaus Walter, Thomas Meinecke: Die Bundesrepublik Deutschland. Edition Nautilus, ISBN 978-3-89401-600-5, 16,00 Euro
Frank Witzel, Klaus Walter, Thomas Meinecke:
Die Bundesrepublik Deutschland.
Edition Nautilus,
ISBN 978-3-89401-600-5,
16,00 Euro
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