Geschichte

Sand in jeder Schublade

von ohne Autor · 22. August 2009
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Der Sand war überall. Hätten die Grenzschützer bei ihren Kontrollbesuchen nur eine Schublade aufgezogen, eine Tür des Küchenschranks aufgemacht oder vielleicht in die Kissenbezüge auf dem Sofa gelunzt, er wäre ihnen entgegen gerieselt. Sand war in Luftmatratzen und Fahrradschläuchen, in eigens zu diesem Zweck tiefer gehängten Decken und unter Bergen von dreckiger Wäsche in der Badewanne. 75 Kubikmeter Sand versteckten die Aagaards in ihrem Haus. Auf dem Boden war nie nur ein Körnchen zu sehen. "Das durfte nicht sein. Sonst wären wir dran gewesen."

Grenzland

Lucie Aagaard sitzt am Esstisch in ihrem Wohnzimmer und blickt zum Fenster. 1963 gab es dort eine Terrassentür, unter ihrem Sockel verborgen war der Tunneleingang. Heute blickt man in den Garten und dahinter auf Brachland. Dort verlief ab 1961 die Grenze zwischen West- und Ostdeutschland, zwischen Glienicke/ Nordbahn und Hermsdorf. Dort patrouillierten bewaffnete Grenzsoldaten der DDR. Quasi im Vorgarten der Aagaards. "Das war nicht zum Aushalten. Wollten wir das Haus verlassen, mussten wir unseren Ausweis zeigen. Ich habe schon Witze gemacht: Ich hänge ihn mir um den Hals", erinnert sich Lucie Aagaard heute.

Unter dauernder Bewachung

"Gegenüber stand damals noch ein Haus und auf der Terrasse saßen die Posten. Meist haben sie geraucht, manchmal auch geschlafen. An Weihnachten oder Silvester habe ich ihnen auch mal ne Thermoskanne Kaffee hingestellt und ein paar Pfannkuchen." Die Grenzer blickten den Aagaards fast auf den Esstisch. Diese Dauerbewachung machte sie und ihre Familie mürbe. Materiell und sozial ging es der Familie gut, Lucie Aagaard betrieb einen Friseursalon, sie war in Glienicke aufgewachsen und hatte einen großen Bekanntenkreis. Und sie hatte das Haus. Und trotzdem. "Das System, das war nichts für uns." - "Würden Sie es noch mal machen, noch mal durch den Tunnel kriechen?", fragt ein Spaziergänger, der neugierig zum "Tunnelhaus" späht. "Ja", sagt die alte Dame und in ihrer Stimme ist kein Zweifel zu hören.

Hochgefährliches Graben

Den Entschluss, zu graben, fassten Aagaards im Tschechoslowakei-Urlaub 1962. Mitkommen sollte noch eine vierköpfige Familie aus Dresden sowie die Eltern eines Lehrmädchens von Lucie Aagaard. Die junge Frau war zuvor schon über die Grenze geflüchtet, oberirdisch, und ihrem Freund so in den Westen gefolgt. Jetzt wollten die Eltern nachkommen. Der Vater übernahm die meisten Grabearbeiten. Das Vorhaben war hochgefährlich. 1962 gelang bereits zwei anderen Gruppen die Flucht durch einen Tunnel aus Glienicke nach West-Berlin. Durch den "Tunnel 28" hatten sich im Januar 1962 insgesamt 28 Menschen in die Freiheit gedrängt.

Die gelungene Flucht inspirierte das Boulevardblatt BZ zu der Schlagzeile "Massenflucht aus Ulbrichts KZ". Ein Affront für das DDR-Regime. Umsomehr, als kurz darauf noch einmal zwölf Männer und Frauen durch die Erde krochen, der Älteste von ihnen war 81 Jahre alt. Schnell sprachen die West-Medien vom "Rentner-Tunnel". Die Grenztruppen waren also höchst alarmiert und darauf gedrillt, jeden Hinweis auf einen Tunnelbau zu erkennen. Den grenznahen Häusern wurden Kontrolloffiziere zugeteilt, die kurzfristige Besuche abstatteten. Kellerkontrollen waren an der Tagesordnung.

50 Meter bis zur Freiheit

Doch die Aagaards hatten keinen Keller. So fielen sie wohl durchs Raster, vermutet Lucie Aagaard heute. Die Familie verhielt sich aber auch besonders listig: Sie erweiterte den Friseursalon um eine Herrenabteilung und goss eine Bodenplatte für die Terrasse des Wohnhauses. Beobachter sahen also eine Familie, die sich eingerichtet hatte in der DDR und in ihr Leben investierte. Rund ein halbes Jahr dauerten die Tunnelarbeiten. 50 Meter weit war der Weg in die Freiheit. Tagsüber buddelte der Vater des Lehrmädchens, nachts schafften Aagaards den Sand weg. Lucie Aagaard musste die Grenzer in dem gegenüberliegenden Haus im Auge behalten: "Manchmal habe ich stundenlang durch die Dachluke geschaut." Sorgen machte ihr der damals zehnjährige Sohn Detlef.

Lästige Fragen

Der war nicht eingeweiht worden und stellte nun lästige Fragen: "Was macht der Hans immer hier?", wunderte er sich über den heimlich grabenden Dauergast. Mit immer neuen Ausreden versuchte Lucie Aagaard, ihn abzulenken. "Ich hab' mich mit der Schwiegermutter gezankt, ich brauche Hilfe im Laden", zählt sie ihre Schwindeleien auf. Doch dann sagte der Junge rundheraus zu ihr: "Gell, wir hauen ab?" - "Was blieb mir da übrig? Ich habe gesagt: Ja. Aber Du musst den Mund halten, sonst kommen wir ins Gefängnis und Du ins Heim." Detlef schwieg. Schließlich war auch sein Alltag geprägt von Kontrollen und dem Blick auf bewaffnete Soldaten.

Zwei fremde Frauen

Im Frühjahr 1963 war der Tunnel schließlich fertig. Die letzten Eimer Sand verteilte Vater Aagaard auf dem Tunnelboden - im Haus war einfach kein Platz mehr. Wieder zeigten sich die Aagaards äußert trickreich: Sie wählten den Abend des 8. März als Fluchttag. Den Frauentag, der in der DDR traditionell groß gefeiert wurde. Für die Augen der Grenzer deckte Lucie Aagaard also die Kaffeetafel, im Verborgenen schnallte sie sich die Papiere der Familie unter den Pulli. Dann der Schock: Die Mutter des Lehrmädchens bringt zwei fremde Frauen mit. "Ich war so sauer, das war für mich unfassbar", erinnert sich die 89-Jährige heute. Doch ihr Mann sagte: "Wer hier drin ist, der bleibt und kommt mit." Jede andere Entscheidung hätte die ganze Gruppe gefährdet.

13 waren sie also, darunter die alte Frau Aagaard. "Wir wollten, dass meine Schwiegermutter das Krabbeln übt: Krauch mal unter dem Tisch durch, habe ich immer zu ihr gesagt. Aber sie wollte nicht", so Lucie Aagaard. Also schnallte ihr Mann seine Mutter auf eine Luftmatratze und sie zogen und schoben sie durch den Tunnel. Am Ende hieß es warten: Ein Mann wurde vorgeschickt, die westdeutschen Grenzschützer zu informieren. Endlich kam er zurück und Soldaten zogen die Familien heraus. Einen Zaun galt es noch zu überwinden, dann schnell hinter ein paar Garagen. Dort wartete ein Wagen und brachte sie nacheinander auf die Polizeiwache. In Hermsdorf. Im Westen. "Mein Sohn wurde zuerst weggefahren und als ich zur Wache kam strahlte er mich an: Ich habe schon `ne Westmark. Ein Polizist hatte sie ihm geschenkt."

Noch einmal ein Friseursalon

Einige quälende Minuten muss Lucie Aagaard noch überstehen, denn ihr Mann trifft als Letzter ein. Dann ist die Fami­lie beisammen, alle 13 Flüchtlinge un­versehrt "drüben" angekommen. In den nächsten Tagen werden DDR-Grenzschützer ungläubig Schublade um Schublade im Aagaardschen Haus aufziehen, bis ihnen von überall der Sand entgegenrieselt und sie endlich den Tunneleingang unter der Terrasse finden.
Da sind die Flüchtlinge schon im Auffanglager Marienfelde untergekommen.

Im Westen bauen sich die Aagaards ihr Leben wieder auf, Lucie arbeitet in einem Friseursalon, eröffnet dann selbst einen, ihr Mann findet schnell Arbeit als Schlosser. Schließlich ziehen sie nach Hermsdorf. Ganz nah an ihr altes Heim. Dass sie eines Tages dorthin zurück kehren würden, hätte Lucie Aagaard nicht für möglich gehalten. Nach der Wende mietete sie das inzwischen leerstehende Haus erst an, dann wurde es ihr wieder zugesprochen. Jetzt wohnt ihr Sohn mit seiner Familie darin, sie hat unten ein Zimmer - mit Blick nach Westen.

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