Über 300 Delegierte versammelten sich im großen Saal des "Trianon". Die Aussprache des dritten großen TOP "Die revisionistischen Bestrebungen" begann am 4. Verhandlungstag um 15.15 Uhr. Die Redezeit wurde als unbeschränkt erklärt, 55 Wortmeldungen lagen vor.
Die Kontrahenten
Bereits seit 1898 ließen sich drei bis vier Richtungen in der Partei erkennen:
1. Die so genannten Revisionisten, deren Vormann Eduard Bernstein ist, halten aufgrund der Abweichungen von den durch Marx und Engels vermittelten Annahmen über die Entwicklung des
Kapitalismus eine Überprüfung der Strategie- und Zielvorstellungen der Sozialdemokratie für geboten und ein friedliches "Hineinwachsen" der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in den
Sozialismus für möglich.
2. Die Revolutionär-Radikalen um Rosa Luxemburg gehen von einer ansteigenden Verelendung des Proletariats aus und fordern, dass der unausweichliche Zusammenbruch des Kapitalismus verknüpft
werden müsse mit der Eroberung der Staatsgewalt auf revolutionärem Wege. Deshalb bestehe aktuell die Notwendigkeit des permanenten Klassenkampfes.
3. Zwischen, besser: über den beiden Antipoden stand das von den Parteivorsitzenden August Bebel und Paul Singer sowie dem Cheftheoretiker Karl Kautsky repräsentierte Zentrum, das zwar
praktische gegenwartsbezogene Reformpolitik z. B. im Reichstag zu betreiben versuchte, aber an der Zielperspektive des "endlichen Sieges" des Sozialismus über den Kapitalismus auf revolutionärem
Wege festhielt.
4. Es zeichnete sich eine kleine Gruppe ab, die die bürgerliche Gesellschaft und das kapitalistische Wirtschaftssystem langfristig für reformfähig im Sinne eines sozialdemokratischen
Volksstaates hielten. Vertreter dieser Auffassung waren aber am ehesten in gewerkschaftlichen Führungsgruppen zu finden.
Stundenlanges Rededuell
Das Duell auf dem Parteitag eröffnet August Bebel; er redet drei Stunden. Er weist jedes Erstreben der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zurück, betont die auf eine Revolution setzende Taktik der Partei, fordert deshalb den fortgesetzten unversöhnlichen Klassenkampf und schwört zum wiederholtem Male: "Solange ich atmen, schreiben und sprechen kann, will ich der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihrem Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, beseitigen." Bernstein weist von sich, je von einer Revision, schon gar nicht einer Revision des Sozialismus gesprochen zu haben, auch stamme der Begriff nicht von ihm, sondern mache schon seit 1894 in der Partei die Runde. Was er wolle, sei, die Theorie der Partei mit ihrer Praxis in Übereinstimmung zu bringen.
Törichtes Brudergezänk
Der Führer der bayerischen Sozialdemokraten, Georg von Vollmar, war es dann, der alles wieder in ein Gleichgewicht bringt; er findet, dass es höchste Zeit sei, "diesem törichten Brudergezänk Einhalt zu tun, denn wir haben eine Aufgabe vor uns, die alle unsere Kräfte verlangt, für die jede Kraft an ihrer Stelle das richtige wirken kann". Und er fordert den Parteitag auf, "die Führer von links und rechts" auf ihre Posten zurückzuweisen, "auf den Posten vor dem Feind zum gemeinsamen Kampf".
Versuch der Versöhnung
Am 6. Verhandlungstag wurde kurz vor 19 Uhr endlich über die Resolution gegen die revisionistischen Bestrebungen abgestimmt mit 288 Stimmen für die Annahme bei 11 Gegenstimmen (Bernstein und
zehn weitere Delegierte). Die meisten 'Revisionisten' stimmten für die Resolution (darunter auch Vollmar) mit der Begründung, die verurteilten Bestrebungen seien nicht die ihren. Bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkrieges blieb es bei dem erreichten labilen Gleichgewicht. Als Clara Zetkin 1914 ihre Freundin fragte, ob man nun nicht besser aus der Partei austreten solle, antwortete Rosa
Luxemburg ihr anlehnend, dass man dann ja auch gleich aus der Menschheit austreten würde.
Helga Grebing (* 27. Februar 1930 in Berlin-Pankow, † 25. September 2017 in Berlin) war eine deutsche Historikerin und Professorin mit den Schwerpunkten in der Sozialgeschichte und der Geschichte der Arbeiterbewegung.