Geschichte

„Qualität des Lebens“: Womit die SPD und Brandt 1972 die Wahl gewannen

In den 70er Jahren bestimmte der Begriff „Qualität des Lebens“ die Debatte in Deutschland. Die SPD stellte ihn 1972 in den Mittelpunkt des Wahlprogramms – und gewann deutlich. Daraus sollten wir unsere Lehren für heute ziehen.
von Stefan Müller · 18. August 2022
Willy Brandt muss Kanzler bleiben: Auf dem Parteitag am 13. Oktober 1972 beschloss die SPD ihr Programm für die Bundestagswahl.
Willy Brandt muss Kanzler bleiben: Auf dem Parteitag am 13. Oktober 1972 beschloss die SPD ihr Programm für die Bundestagswahl.

Ende der 1960er-Jahre kamen verschiedene gesellschaftliche Krisen zusammen, die nach neuen Antworten verlangten: Smog und Umweltverschmutzung waren Dauerthemen in der Presse (zuletzt das Fischesterben im Rhein 1969); der Individualverkehr mit dem Auto nahm für die Menschen unerträgliche Ausmaße an und die Städte wurden zu Molochen; der Arbeits- und Gesundheitsschutz mussten modernisiert werden (Deutschland lag in den 1960er-Jahren in der europäischen Unfallstatistik weit vorne).

Einzelne Probleme wurden schon lange benannt, wir erinnern uns an die Forderung Willy Brandts, der Himmel über der Ruhr müsse wieder blau werden. Die verschiedenen Problemfelder verschränkten sich in der Wahrnehmung der Menschen jedoch miteinander zu einer fundamentalen gesellschaftlichen Krise. Die Besonderheit war, dass der seit 20 Jahren beständig wachsende Wohlstand – Waschmaschine, Kühlschrank, Auto, regelmäßige Urlaubsreisen – keinen Ausgleich mehr boten, gar selbst Ausdruck der Krise war. Das Zweitauto wog die Vergeudung von Lebenszeit und den Stress im Stau nicht auf; ein größerer Fernseher lenkte nicht mehr von der Eintönigkeit der Fließbandarbeit oder gar den Gesundheitsgefahren am Arbeitsplatz ab.

„Qualität des Lebens“ in aller Munde

All dies führte die Menschen, führte die Gesellschaft zu der Frage, was eigentlich die Qualität des Lebens ausmachte. Der Begriff „Qualität des Lebens“ tauchte erstmals in den 1920er-Jahren auf. In den 1960er-Jahren nutze ihn der US-Präsident Lyndon B. Johnson (1963-69) zur Beschreibung seines Sozialprogramms „The Great Society“. Zu Beginn der 1970er-Jahre war der Begriff schließlich in aller Munde. Die Strahlkraft und die Breite dieses Begriffs lassen sich am IG-Metall-Kongress „Aufgabe Zukunft: Qualität des Lebens“ anschaulich erzählen. Im April 1972 kamen 1200 Politiker*innern, Wissenschaftler*innen und Gewerkschafter*innen in Oberhausen zusammen, um über Umwelt, Verkehr, Gesundheit, Bildung, Arbeit, Regionalentwicklung und vieles mehr zu diskutieren. Lebensqualität wurde in ihrer ganzen Vielfältigkeit verstanden.

Bundespräsident Gustav Heinemann gab gleich zu Beginn des Kongresses den Ton vor (auch wenn er dies vorsichtiger als seine Nachrednerinnen formulierte). Er stellte fest: „Wir stehen inmitten stürmischer industrieller Revolution und steigendem zivilisatorischen Wohlstandes“, um dann zu fragen, ob die Menschen in den westlichen Gesellschaften „nicht viel zu lange manche Kosten unseres Wohlstandes in den Industrieländern auf die Umwelt abgewälzt“ hätten, „in der wir nun zu ersticken drohen“. Heinemann stellte also die Umweltverschmutzung in den Mittelpunkt.

Der nachfolgende Redner, der DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter, kritisierte die Diskrepanz zwischen privatem Wohlstand und öffentlicher Armut. „Wir gönnen uns weite und luxuriöse Ferienreisen“, so Vetter, „und sind nicht in der Lage, Krankenhäuser und Schulen zu bauen. Wir sind stolz auf das schnelle Auto, ja auf den Zweitwagen für die Familie, und ersticken auf verstopften Straßen in Abgasen“. Er schloss seine Analyse mit der Aufforderung nach einem radikalen gesellschaftlichen Bruch mit den „beherrschenden Prinzipien des privaten Gewinns und des unkritisch gesehenen Wachstums“. Erhard Eppler, der damals schon den Status eines Vordenkers in der Sozialdemokratie hatte, spitzte die Diskussion zu und argumentierte, wir sprächen von der Qualität des Lebens, „weil wir an der Quantität irre geworden sind“. Das ökonomische Wachstum der vorangegangenen 100 Jahre, so Eppler weiter, habe das Leben „in vielen angenehmer gemacht“, könne es aber nun „auch unerträglich machen“.

Konsumkritik und Selbstkritik

Bemerkenswert an den Perspektiven, die Gewerkschafter*innen und Sozialdemokrat*innen damals entwarfen, war die Konsumkritik und die Selbstkritik an der globalen Ressourcenverschwendung. „Qualität des Lebens“ bedeutete eben nicht ein Mehr an privatem Konsum, sondern ein Mehr an öffentlichen Gütern wie Bildung, Krankenhäusern, öffentlicher Nahverkehr, und dies unter Berücksichtigung der planetarisch vorhandenen Ressourcen. Wissenschaftlich untermauert wurde die ökologische Kritik nicht zuletzt durch die 1972 erschienene Studie des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“. Im Rückblick scheint die Studie den Anstoß für Umweltdiskussionen gegeben zu haben. Tatsächlich liefen die Diskussionen schon ein paar Jahre – so wie auch der Bericht selbst bereits Ende der 1960er-Jahre in Auftrag gegeben wurde.

Im Bundestagswahlkampf 1972 stellten Willy Brandt und die SPD die „Qualität des Lebens“ in den Mittelpunkt. Das Wahlprogramm, im Oktober 1972 beschlossen, verband dabei die Zukunftsherausforderungen einer lebenswerten Gesellschaft mit dem aktuellen Konflikt um die Entspannungspolitik: „Mit Willy Brandt für Frieden, Sicherheit und eine bessere Qualität des Lebens“, so der Titel des Programms. Die SPD erlangte damals ihr bislang bestes Wahlergebnis (45,8 Prozent) und die Bundesrepublik verzeichnete zugleich die höchste Wahlbeteiligung ihrer Geschichte (91,1 Prozent).

In Erinnerung ist die Wahl vor allem aufgrund der Auseinandersetzung um die Ostverträge. Die oppositionelle CDU hatte im April versucht, den Kanzler der Verträge mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin zu stürzen. Dies misslang und die Parteien einigten sich auf eine vorgezogene Bundestagswahl im November 1972. Im Wahlprogramm für die „Willy-Wahl“ nahm die Entspannungspolitik jedoch nur einen kleinen Teil ein; auf rund der Hälfte des Textes formulierte die SPD stattdessen ihre Ziele für eine lebenswerte Gesellschaft. Ganz ähnlich den Debatten beim IG-Metall-Kongress einige Monate vorher hieß es dort, dass „ein Mehr an Produktion, Gewinn und Konsum noch nicht automatisch ein Mehr an Zufriedenheit, Glück und Entfaltungsmöglichkeit für den einzelnen“ bedeute.

Lehren für uns heute

Heute ist die Erinnerung an diese konsumkritische und umweltbewusste Debatte verblasst; nicht nur in der Sozialdemokratie, sondern auch in den Gewerkschaften. Die Ursachen hierfür liegen in den neuen Krisen der 1970er-Jahre, welche das Visionäre der Qualitätsdiskussionen überlagerten: Die Energiepreiskrise ab 1973, verschiedene Strukturkrisen und damit verbunden die bald in die Million gehende Massenarbeitslosigkeit. Im Bereich der Sozialversicherungen oder auch des Arbeitsschutzes wurde noch viel erreicht, aber andere notwendige Reformen fielen damals unter den Tisch. Die klimatischen Veränderungen stellen heute das größte aller damals bereits bekannten globalen Probleme dar; viele Entwicklungen sind nicht mehr umkehrbar.

Einen Punkt sollte man aus den Diskussionen um die „Qualität des Lebens“ mitnehmen: Vor zwei, drei Jahren schien die Klimakrise unser aller Denken zu bestimmen und die Wahlkämpfe der vergangenen Jahre waren davon geprägt. Nun stehen wir jedoch mit der Gaspreiskrise und dem Krieg in der Ukraine erneut Problemen gegenüber, die alles überschatten. Dies sollten wir nicht zulassen. Zu wichtig ist es, die Erde bewohnbar zu erhalten und allen Menschen ein Leben zu ermöglichen, in dem sie zufrieden und glücklich sind und sich entfalten können.

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Autor*in
Stefan Müller

ist Historiker im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seine Schwerpunkte liegen in der Geschichte der Arbeitswelt und der Gewerkschaften.

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